Hans Platzgumer – Lockdown Logbus

Lockdown Logbuch Woche#7:
Ich erinnere mich, wie zu Beginn von der Notwendigkeit „verlässlicher Informationen“ und Transparenz die Rede war. Dieses Bemühen war in einer Informationsgesellschaft zum Scheitern verurteilt, in der jeder und jede augenblicklich Mitwissen und Mitspracherecht verlangt, das Sujet jedoch keine verlässlichen Daten hergibt. Aus der Not heraus wurde im Handumdrehen ein allgemeines Expertentum erschaffen, Menschen mit oder ohne Ausbildung, Erfahrung, Kenntnis kamen zu Wort, verkündeten Vermutungen als Tatsachen und lösten die Grenze zwischen Wissen und Glauben auf. Es braucht heute keine Rechtspopulisten oder hinterhältige Geheimdienste, um Fake News zu streuen oder Unsagbares zu sagen, wir erledigen es selber und richten damit Schaden an.

Durch unser unübersichtliches Rasen entsteht aber nicht nur virtueller Müll, Beeinflussung und Konfusion, sondern auch eine neue Freiheit. Wenn kaum mehr etwas zählt, zählen auch Fehler kaum. Wenn andere sich schon zu weit hinauswagen und offensichtlich ihre Grenzen überschreiten, so darf ich es auch. Die Hemmschwelle sinkt, die Demokratisierung steigt, es können Dinge geschehen, die sich vorher niemand hätte vorstellen können – im negativen wie positiven Sinn. Ein neuer Mut, eine neue Selbstermächtigung tritt hervor. Das ist gleichwohl beängstigend wie befreiend. Vielleicht entsteht in dieser Berührung des Unmöglichen auch Neugier, Wissensdurst? Zumindest ist unsere Gesellschaft eine vielstimmigere geworden. Nicht länger ist entschieden, wer recht hat und wer nicht. Je mehr Experten dazu geholt werden, desto mehr Unwissen wird offen gelegt, Pluralismus entsteht.

Hätte die Coronakrise unser Land nur wenige Monate früher getroffen, hätte keine gewählte, sondern eine reine Expertenregierung damit umgehen müssen. Wählerumfragen hätten keine Rolle gespielt. Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie von Experten beratene Expertenminister unter Kanzlerin Bierlein das Land durch diese Situation navigiert hätten. Hätte sie gewagt, weniger autoritär aufzutreten und mehr Nichtwissen zuzugeben? Nichtwissen ist keine Schande, solange es nicht als sein Gegenteil verkauft wird.

Während all diesem Aufruhr schleicht sich das Virus, das dafür verantwortlich war, durch die Hintertür hinaus, versteckt sich dort, lauert auf seine nächste Chance und hinterlässt uns ein Trümmerfeld. Noch sind wir machtlos gegen es. Wenigstens aber brachte es nicht nur Zerstörung mit sich. Es öffnete ein mögliches Lernfenster für die Menschheit, riss es weit auf. Unverbesserliche Weltverbesserer wie ich setzten jede Menge Hoffnungen in dieses Momentum. Wir wünschten uns, dass die sich selbst in Überfluss erstickende und aus von sich selbst entfremdeten Individuen bestehende Konsumgesellschaft zur Besinnung kommen könnte. Wir könnten mit all dem destruktiven Unfug aufhören, den wir uns schleichend angewöhnt haben. Vor anderthalb Monaten betitelte ich dieses Logbuch „Die Chance“. Heute endet es. Das Virus verfolgt nichts als das Ziel seines Überlebens. Wir Menschen, seine Wirte, sind zwar noch nicht imstande, es auszulöschen, wenigstens aber, es mit Sinn zu füllen. Wenn wir das tun, ist nicht alles umsonst. Die Pandemie ist wie unser Dasein ganz allgemein ein sinnfernes Geschehen, ein vergängliches Ereignis. Es nimmt irgendwann Fahrt auf, entwickelt eine Eigendynamik, beeinflusst verschiedene Geschehnisse und vergeht wieder. Fragen werden aufgeworfen und bleiben unbeantwortet. Uns bleibt nichts anderes übrig als der Versuch des Interpretierens. Fangen wir also damit an. Schütteln wir die Irrationalität ab, die so viele von uns ergriffen hat. Entledigen wir uns der Angst, die uns lähmt und am Denken hindert. Angst macht unfrei. In der Coronakrise wird sie gezielt eingesetzt. Erst wenn wir sie überwunden haben, können wir weiterkommen und die Dinge hinterfragen. Und wenn wir dann schon dabei sind, dann überdenken wir am besten gleich möglichst gleich alles. Wenn nicht jetzt, dann nie.
Ganzer Text auf: www.platzgumer.net/Logbuch

(Aus dem Lockdown Logbuch „Die Chance“, Sperrzonenleben,
Woche #6:)
Die Welt, die mich umgibt, ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Nicht länger sind wir locked down, nur locked in. Innerhalb einer abgezäunten Welt ist Österreich unsere kleine Spielwiese geworden, und zumindest hier fährt, scheint’s, alles wieder los, das fahren darf und fahren kann. Wir tragen den Lärm und die Abgase zurück in die Welt, Sprit ist billig wie nie, jeder, der eingesperrt war, strömt hinaus. Jeder – außer denen, die resigniert haben, und von denen wir auch in Statistiken nichts lesen – tut, was er irgendwie tun kann, weil er das Nichtstun nicht mehr will.
Auf dem Platz unter meinem Fenster stehen sich Menschen mit ein, zwei, drei, vier Metern Abstand gegenüber und rufen sich Small Talk zu. Manche vermuten wohl, dass sich Coronaviren auch über Mobiltelefone übertragen, denn sie sitzen auf einem Mauervorsprung, haben das Handy auf Lautsprecher und maximale Lautstärke gestellt und halten es mit gestrecktem Arm von sich. Zum Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung wird ein halber Meter extra social distancing herausgeschunden. Nur wenn sich die Leute ihre wieder und wieder verwendeten Einwegschutzmasken überstülpen, werden sie wortkarg. An der Wursttheke findet kein Pläuschchen mehr statt, dafür im Freien das Sich-Überbrüllen. 
Da wir weder wissen, was verboten oder erlaubt ist, noch, was wir eigentlich tun sollen, ja was denn überhaupt geschehen ist, geschehen wird, geschehen soll, rennen wir planlos herum. Die Entschleunigung der letzten Wochen wird zur unbeholfenen Beschleunigung, die Untätigkeit zur Wiederbetätigung. Genau jetzt wäre Steuerung vonnöten, damit unsere Überfluss- und Wegwerfgesellschaft nicht sofort in alte Muster zurückkippt und unreflektiert dort weitermacht, wo sie Mitte März unterbrochen wurde. Fünf Wochen Stillstand hätten mehr sein können als einfach Bewusstlosigkeit. Doch was ich in Woche 6 beobachte, mutet nicht wie ein neues Bewusstsein an, eher wie der Beginn einer unkoordinierten Aufholjagd. Das gesamte Logbuch:  www.platzgumer.net/Logbuch

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