„Ich habe mich vorher noch nie mit Gasmasken befasst“
Von Sarah Kleiner
Fotos Ursula Röck
„Geschichte wiederholt sich“, denkt man sich, wenn man in Magdas Hotel die Pinnwand mit den säuberlich aufgehängten Zeitungsartikeln über das Projekt ansieht. Das Hotel wurde im Zuge der Fluchtbewegung 2015 als Zwischennutzungsprojekt eingerichtet, um Arbeitsplätze für Geflüchtete zu schaffen. Asylwerber aus elf Nationen bildeten das Team. Heuer wird Magdas in die Ungargasse übersiedeln und das Gebäude im Wiener Prater umfunktioniert. Ab Herbst wird es zur Gänze eine Unterkunft für ukrainische Kriegsvertriebene sein. In aufwühlenden Zeiten haben wir uns in Magdas Besprechungsraum gesetzt und eine Videokonferenz mit Darya Bassel gehalten, einer ukrainischen Filmproduzentin und Festivalkoordinatorin. Sie baut seit Kriegsbeginn ein Versorgungsnetzwerk mit auf, das Dokumentarfilmer, die Kriegsverbrechen in der Ukraine festhalten, mit essenziellen Dingen versorgt. Schusssichere Westen, Helme, technische Ausrüstung und mehr. Auch für Prozesse rund um Kriegsverbrechen sollen die Aufnahmen später dienen. Wir haben mit Bassel über ihr Engagement, den Wert des Dokumentarfilms und über die Unwirklichkeit des Kriegs gesprochen, an einem Ort, an dem wohl viele etwas darüber zu sagen wüssten.
Sie lebten bis zum Ausbruch des Kriegs in Kiew – wo sind Sie jetzt?
Darya Bassel: Nachdem ich Kiew verlassen habe, ging ich in den Westen des Landes und jetzt lebe ich in Iwano-Frankiwsk. Momentan befinde ich mich aber in Odessa, weil meine Eltern hier wohnen. Ich habe sie seit Kriegsbeginn nicht gesehen, auch davor eine Weile nicht. Wenn man mit Leuten am Telefon spricht, kann es passieren, dass man sich die schrecklichsten Bilder vorstellt. Ich musste sie besuchen und mit eigenen Augen sehen, dass alles in Ordnung ist.
Wie fühlt es sich an, wenn man weiß, dass Krieg im Land herrscht, einige hundert Kilometer entfernt?
Im Moment fühle ich mich absolut okay, abgesehen davon, dass ich nicht in meine Wohnung in Kiew kann. Ich bin nicht in der heißen Zone, nicht mitten in Kämpfen, deshalb ist es in Ordnung. Manchmal fängt man sogar an zu vergessen, dass es einen echten Krieg gibt, echte Tötungen und echte Morde, und dass echte Menschen leiden. Es ist wirklich kompliziert, dieses Gefühl der Realität beizubehalten. Es ist jetzt Monate her, dass der Krieg in vollem Umfang begonnen hat, und es fühlt sich ganz anders an als am Anfang. Ich glaube aber, es liegt in der menschlichen Natur, so mit diesen Geschehnissen umzugehen. Es ist unmöglich, immer angestrengt zu sein und zu begreifen, was vor sich geht. Deshalb sind Dokumentarfilme auch aktuell so wichtig.
Warum genau?
Die Arbeit, die Dokumentarfilmer gerade in der Ukraine leisten, hat eine große Bedeutung, denn wenn sie mit ihren Filmen fertig sind, können wir Zuschauer erst wirklich spüren, was die Leute im Krieg gerade durchmachen. Es geht nicht nur um die Information, im Moment ist es kein Problem, Informationen über den Krieg zu erhalten und sich ein wahrheitsgetreues Bild von der Situation zu machen. Aber wirklich zu verstehen, was die Menschen erleben und fühlen, ist fast unmöglich. Und ich denke, Dokumentarfilme dienen immer diesem Zweck.
Sie versorgen seit Kriegsbeginn über ein wachsendes Netzwerk Dokumentarfilmer mit essenziellen Dingen und Equipment. Wie arbeiten Sie von Odessa aus?
Wir helfen Dokumentarfilmern, aber wir sind nicht die einzige Initiative. Grundsätzlich gibt es drei große Gruppen von Dokumentarfilmern, es gibt aber auch eine breite Palette von unabhängigen Einzelpersonen, die in den gefährlichen Regionen sind. Die drei Gruppen sind „Babylon 13“, „Tabor Production“ und auch eine neugegründete Gruppe namens „Kinodopomoha“, aus dem Ukrainischen übersetzt bedeutet das „Filmhilfe“. Diesen drei Gruppen gehören die meisten ukrainischen Dokumentarfilmer an, die Kriegsverbrechen in der Ukraine aufzeichnen. Mit ihnen stehen wir in ständigem Austausch. Dank unserer Partner kommt viel Unterstützung aus Tschechien und Deutschland. So haben zum Beispiel deutsche Filmemacher bereits 75.000 Euro gesammelt, um uns zu helfen. Dadurch konnten wir 30 Kits mit schusssicheren Westen und Helmen finanzieren, die gerade jetzt in die Ukraine geliefert werden.
Was kaufen Sie sonst noch?
Wir kaufen technische Ausrüstung wie Kameras, Laptops, Objektive oder Powerbanks und medizinische Kits. Vor Kurzem gab es eine Operation, die wir zusammen mit unserer tschechischen Freundin Diana Tabakov organisiert haben, sie ist die Geschäftsführerin der Plattform „Doc Alliance Films“. Sie ist einfach unglaublich. Ich bekam eine Anfrage von einem Filmemacher, dass wir Gasmasken brauchen. Jeder hier erwartet chemische Angriffe von Russen. Als ich diese Anfrage erhielt, war ich etwas verwirrt. Wissen Sie, ich habe mich vorher noch nie mit Gasmasken befasst, ich wusste nicht, welche Art von Masken wir brauchen und wo ich sie kaufen sollte. Aber ich wusste, Diana hat viele Kontakte und Strippen, die sie ziehen kann. Ich schrieb ihr und nach zwei Tagen wusste sie, was für Masken und wo man sie kaufen konnte. Sie hat sich bei einem Militärexperten erkundigt. Heute wurden die Masken nach Kiew geliefert und unter Filmemachern verteilt.
Wie gut funktioniert die Finanzierung?
Neben der Unterstützung von internationalen Gruppen und Initiativen, die Geld sammeln und Dinge kaufen, die wir brauchen, wie Westen oder technische Ausrüstung, und dann zu uns schicken, haben wir selbst einen Spendenfond namens „Docuhelp“ eingerichtet. Über diese Initiative bekommen wir Spenden auf das Konto des Docudays Festivals, das ich die letzten Jahre mitorganisiert habe. Bis jetzt haben wir rund 12.000 Euro gesammelt, was keine sehr große Summe ist, aber nützlich. Damit können wir Filmemachern bei kleineren Ausgaben wie Benzin helfen, oder sie bei Hotel- oder Übernachtungskosten unterstützen. Manchmal kaufen sie Objektive oder technische Ausrüstung. Wir geben fast alles aus, was auf dem Konto ist, und machen dann eine weitere Welle an Werbung für die Aktion. Wir haben international viele Freunde, in Großbritannien, der Slowakei, Slowenien, Polen, Lettland – die Vorführungen ukrainischer Filme organisieren. Das Geld, das sie bekommen, spenden sie auch uns. Ich hoffe, dass wir bald mehr Spenden generieren und weitermachen können. Aber natürlich müssen wir auch Energie in Werbekampagnen investieren.
Das klingt nach einer breiten internationalen Solidarität.
Ehrlich gesagt ist es beeindruckend, die Resonanz der internationalen Community war riesig, insbesondere in den ersten Tagen des Kriegs haben wir hunderte Emails erhalten.
Sie haben zu Kriegsbeginn an der Organisation des Docudays Festivals für Menschenrechte gearbeitet. Machen Sie zur Zeit irgendwelche Pläne, wie es weitergehen soll?
Der einzige Plan ist, dass wir das Festival organisieren, sobald der Krieg vorbei und die Ukraine frei ist. Bis jetzt gibt es keine Festivals, keine Vorführungen. Unser Team arbeitet außerdem gerade an zu großen Projekten. Eines davon ist die „Docuhelp“-Initiative und eine andere, die wir starten, ist die „Enzyklopädie des Kriegs“. Die Idee dahinter ist, viele verschiedene audiovisuelle Beweise von Kriegsverbrechen zu sammeln, ein großes Archiv dieser Beweise zu erstellen und es dann verschiedenen Personen wie Menschenrechtsaktivisten, Journalisten oder Filmemachern zugänglich zu machen. Im Moment arbeiten wir an einigen rechtlichen Aspekten dieses Projekts, wir erstellen die Struktur und das Design. Das sind die beiden großen Projekte, an denen wir gerade arbeiten.
Sie haben im Frühjahr beim Sundance Film Festival mit dem Film „A House made of Splinters“ den Regiepreis gewonnen und an eigenen Projekten gearbeitet. Liegen diese auch auf Eis?
Als Produzentin habe ich immer mehrere Projekte in verschiedenen Produktionsstadien. Wir hatten Glück, denn einen unserer Filme – „Outside“, ein Dokumentarfilm – haben wir gerade noch vor dem Krieg fertiggestellt und er hatte vor ein paar Wochen seine Weltpremiere beim CPH:DOX Festival in Kopenhagen. Die nächste Station wird „Hot Docs“ in Kanada sein, also ist der Film sozusagen auf Reisen und wir können ihn vorführen. Außerdem haben wir einen Spielfilm gemacht, er heißt „The Editorial Office“ und ist eine Koproduktion zwischen der Ukraine und Deutschland. Als der Krieg begann, waren wir gerade am Schneiden, also wir konnten den Film zum Glück abdrehen, aber im Moment denken wir eigentlich nicht darüber nach, wie wir ihn fertigstellen können. Wir sind sicher, dass wir ihn fertigstellen werden, aber wir brauchen etwas Zeit, um uns und unsere Gedanken zu sammeln und alles zu verdauen, was mit uns passiert. Unser Team ist außerdem ziemlich zersplittert. Unser Regisseur musste fliehen und ist zur Zeit in Rumänien. Er hat drei Kinder, er durfte das Land verlassen. Und unser Editor ist in der Armee, also ist es unmöglich, weiter zu schneiden. Aber wir werden sehen. Wir hoffen, dass wir sehr bald weitermachen können.
Darya Bassel wurde 1985 geboren und studierte Literaturwissenschaft und Deutsch in Odessa, danach arbeitete sie in Kiew im Fernseh- und Werbebereich. 2011 wurde sie Teil des Teams des Docudays UA International Human Rights Documentary Film Festival, wo sie bis heute als Koordinatorin und Organisatorin tätig ist. Zu den von ihr (co)produzierten Filmen zählen zum Beispiel die Dokumentationen „Sickfuckpeople“ (2013) und „My Father is my Mother‘s Brother” (2018) oder der Kurzfilm „Desaturated“ (2019). Sie war Jury Mitglied bei mehreren Filmfestivals wie Visions du Réel, Astra oder dem International Documentary Filmfestival Amsterdam (IDFA).
Das Interview wurde auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt. Darya Bassel hat Spenden für folgende Initiativen empfohlen:
Spenden für Kinder- und Jugendhilfe: voices.org.ua/en
Dokumentarfilmer: docudays.ua/eng/help