„Ich habe rote Linien vermisst“
Die Nationalratswahl steht bevor und ihr Ausgang könnte für Österreichs Klimapolitik einen herben Rückschlag bedeuten. ÖVP und FPÖ liegen in den Umfragen vorne, wobei die klimapolitischen Angebote der beiden Parteien dürftig bis nicht vorhanden sind. Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur (BOKU), spricht im Interview über die Erfolge und Verfehlungen der amtierenden Regierung und über ziviles Engagement als notwendiges Mittel, um das Ruder herumzureißen.
Von Sarah Kleiner
Das Umweltministerium wurde seit 1987 von der ÖVP geführt. Welches Erbe hat Leonore Gewessler (Grüne) als Klimaschutzministerin angetreten?
Reinhard Steurer: Ernsthafte Klimapolitik war bis 2019 in Österreich im Grunde inexistent. Klimapolitik war gleichbedeutend mit dem Versuch, sich günstig aus der Affäre zu ziehen. Das hat bis 2012 im Rahmen des Kyoto-Protokolls funktioniert, indem man Zertifikate gekauft und sich darüber gefreut hat, dass sie so billig waren. Österreich war europaweit unter den Schlechtesten in der Klimapolitik. Was wir seit 2019 erleben, ist besser, bleibt aber trotzdem hinter den eigenen Zielsetzungen zurück.
Zielsetzungen, die auch im Regierungsprogramm festgeschrieben waren. Warum wurden manche nicht umgesetzt?
Weil die ÖVP blockiert. Aber auch die Mehrheit der Gesellschaft ist verantwortlich, die das toleriert und bei der Nationalratswahl möglicherweise sogar noch belohnen wird. Die ÖVP hat in der Pandemie gemerkt, dass der Geist aus dem Jahr 2019 verschwunden ist. Die „Fridays For Future“-Bewegung machte keinen Druck mehr, sie wurde von der Pandemie ausgebremst und ist nie wieder in derselben Stärke zurückgekommen. Da schwand das Interesse, Ziele so umzusetzen, wie es vereinbart war. Deswegen hat es kein Klimaschutzgesetz gegeben, kein effektives Erneuerbare-Wärme-Gesetz, so lange keinen Nationalen Energie- und Klimaplan, was sogar schon mit Vertragsverletzungsverfahren gemahnt worden war.
Waren die Grünen zu zögerlich?
Ich habe rote Linien vermisst, ab der sie sagen: „Wenn das oder das nicht kommt, dann hat es keinen Sinn, die Koalition fortzuführen.“ Zum Schluss gab es ein Machtmoment, als die Grünen gegen den Willen der ÖVP dem EU-Renaturierungsgesetz zugestimmt haben. Auch für die Wahlkampagne war das eine Notbremse und sie werden davon wahrscheinlich profitieren.
Der europäische „Green New Deal“ stammt aus der Feder einer Konservativen, der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Wie unterscheidet sich „grüne“ von konservativer Klimapolitik – geht es für letztere nicht immer auch um die Schaffung neuer Märkte?
Ursula von der Leyen ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch Politikerinnen und Politiker aus bürgerlichen, konservativen Parteien Klimaschutz ernst nehmen können. Leider hat dieser in Karl Nehammers ÖVP keine große Bedeutung, in Deutschland unter Friedrich Merz in der CDU ebenso wenig. Konservative Parteien legen Klimaschutz als standort- oder wirtschaftsfeindlich aus, als Vernichtung von Arbeitsplätzen. Dabei sehen wir etwa in der Automobilindustrie das genaue Gegenteil. Wer bei der Transformation nicht dabei ist, gerät unter Druck, weil die Zukunft des Autos elektrisch ist. Bei Strom ist es ähnlich. Erneuerbarer Strom ist der günstigste und damit ein Wettbewerbs- und Standortvorteil. Ihn nicht schneller auszubauen, ist wirtschaftspolitisch ein Fehler. Länder, die den Erneuerbaren- und Netzausbau verschlafen, werden Nachteile haben, dazu gehören Bayern – CSU-geführt – und auch Teile von Österreich.
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) pocht auf E-Fuels als Alternative zu fossilen Treibstoffen.
Das ist ein Märchen, das Gesetze der Physik ignoriert. Wenn ich Leuten erzähle, dass der Verbrennungsmotor weiterhin Bestand haben wird und Heizungen in Zukunft mit Biogas betrieben werden, dann entsteht kein Verständnis für die Energiewende. E-Fuels und Biogas werden wir woanders dringend brauchen, in der Industrie und im Flugverkehr, aber nicht bei Autos oder Heizungen. Wenn Politiker das trotzdem behaupten, prägt das die Realität zuungunsten unseres Wirtschaftsstandorts. Am Ende wird dann nicht die eigene Ignoranz, sondern der Klimaschutz Schuld an wirtschaftlichen Problemen gewesen sein.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heuer entschieden, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Könnte man mit Klimaklagen eine zukünftige Regierung zum Handeln bewegen?
Klagen sind eine Strategie unter mehreren, die eine Gesellschaft nutzen kann – neben Massenprotesten, zivilem Widerstand und Boykott. Aber Klagen können Regierungen nicht zum Klimaschutz zwingen, das zeigt das Beispiel Schweiz auch. So hat das Schweizer Parlament erklärt, diesen Spruch des EuGH zu ignorieren. Er sei überbordend und der EuGH damit zu weit gegangen. Was wir hier sehen, ist der Zerfall des rechtsstaatlichen Prinzips. Ohne eine Mehrheit, die eine bessere Klimapolitik einfordert, wird es nicht gehen.
Es wird tonnenweise Kleidung produziert, die direkt auf der Müllhalde landet, und Neuware vernichtet. Braucht es nicht stärkere Einschnitte in Überproduktionsmechanismen?
Natürlich sind Konsumentscheidungen von Einzelpersonen nicht genug. Es braucht auch das Ordnungsrecht. Man kann klimaschädliche Produkte teurer machen und dafür einen Klimabonus auszahlen, und man sollte manches auch verbieten, aber diese politische Diskussion wird derzeit nicht geführt. Billigfleisch, Fast Fashion, Billigflüge – diese Dinge zeigen, dass der Ordnungsrahmen nach wie vor klimaschädliches Verhalten fördert. Wie kann es zum Beispiel sein, dass ich in der Wiener U-Bahn Werbung für Flugreisen sehe? Wie bei Tabak müsste man das als Erstes verbieten, würde man Klimaschutz ernst nehmen. Aber da fürchtet man wirtschaftliche Einbußen mehr als die Klimakatastrophe. Der Vergleich mit dem Werbeverbot für Zigaretten zeigt deutlich: Solange für klimaschädliche Produkte auch noch geworben werden darf, tun wir nur so, als wäre uns Klimaschutz wichtig. Ich nenne das „Scheinklimaschutz“.
Das rote Wien rühmt sich als Klimamusterstadt. Ist sie das?
Die Zielsetzungen sind anspruchsvoll, an der Umsetzung hapert es. Man braucht nur zu versuchen, mit dem Fahrrad am Gürtel die Klimamusterstadt zu finden. Am Beispiel Paris sieht man, was in kurzer Zeit mit progressiver Politik möglich wäre. Bei der SPÖ ist mit dem neuen Vorsitz durch Andreas Babler Klimaschutz wichtiger geworden und es kamen ermutigende Signale. Aber der Vorsitz kämpft mit dem Parteiapparat, wo noch viel altes Denken vorhanden ist. Am deutlichsten sieht man das bei Großbauprojekten wie dem Lobautunnel und der dritten Piste am Flughafen Schwechat, nach wie vor befürwortet von der Wiener SPÖ. All das passt weder zu einer Klimamusterstadt noch zu einer modernen SPÖ, die für mehr Klimaschutz eintritt. Dennoch ist die Partei eher Teil der Lösung als die ÖVP. Von der FPÖ brauchen wir da gar nicht erst reden.
Zum Schluss noch der Versuch eines positiven Rückblicks: Was waren die großen Erfolge der Regierung?
Die zwei größten Entscheidungen wurden im Konflikt mit der ÖVP getroffen – die Absage des Lobautunnels und das Ja zum Renaturierungsgesetz. Letztere war die weitaus größere Entscheidung, weil sie europaweit gilt. Dadurch wird Klimaschutz in einem Bereich möglich, in dem bisher wenig passiert: in der Landwirtschaft. Ansonsten sind kleinere Erfolge gelungen, wie etwa der Klimabonus mit CO2-Preis, das Klimaticket, das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz. Aber es wird mehr nötig sein, um das Ziel für 2030, geschweige denn Klimaneutralität bis 2040 zu erreichen. Was bitter fehlt, sind ein Klimaschutzgesetz und ein weitreichendes Erneuerbare-Wärme-Gesetz. Diese Lücken werden wir auch in der Emissionsbilanz sehen – und das wird teuer für uns werden.