Ich und ich
Kolumne von Sarah Kleiner
Schon interessant, worüber wir als Gesellschaft diskutieren, was unsere Gemüter bewegt. Zwei Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ flogen kürzlich nach Bali. In Deutschland zählen sie zu den jungen Menschen, die sich für Gesetze engagieren, die uns eine intakte Natur bescheren sollen. „Heuchelei!“, hieß es da sofort, man kann sich doch nicht erst auf die Straße kleben und dann in Asien das Leben genießen. Jedenfalls war die Angelegenheit tagelang Gesprächsthema und Gegenstand mehrerer Medienbeiträge.
Worüber nicht so viel gesprochen wurde, ist die Verlängerung der Zulassung von Glyphosat in der EU, die Ende vergangenen Jahres auf den Weg gebracht wurde. Bis Dezember 2023 darf der chemische Stoff nun weiterhin in Form von Pflanzenschutzmitteln auf Europas Feldern ausgebracht werden. Und das obwohl die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC), eine Unterorganisation der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Glyphosat 2015 als „wahrscheinlich krebserregend“ einstufte.
Welche Schäden das Spritzmittel im menschlichen Körper anrichten kann, ist also kein Geheimnis und in dutzenden wissenschaftlichen Studien dargelegt. Krebs, Fruchtbarkeitsstörungen, embryonale Fehlentwicklungen und andere Gesundheitsprobleme wurden bereits in Zusammenhang mit Glyphosat beobachtet. Eine wissenschaftliche Metastudie der Universität Washington aus dem Jahr 2019 ermittelte für Menschen, die glyphosathaltigen Pestiziden ausgesetzt sind, einen Anstieg des relativen Risikos, am Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken, um 41 Prozent. Während in den USA von Landwirten und Feldarbeitern Schadenersatzklagen in Milliardenhöhe ausgefochten werden, beschloss Österreich ein Teilverbot – immerhin. Seit Mai 2021 ist zwar die nicht-berufliche Verwendung von Glyphosat, der Einsatz bei Hobbygärtnern und auf öffentlichen Flächen wie zum Beispiel Kinderspielplätzen untersagt, in der Landwirtschaft wird aber munter weitergespritzt. Ein nationales Totalverbot – wie es Österreich in der Vergangenheit anstrebte – ist laut EU-Kommission nicht mit geltendem Unionsrecht vereinbar.
Generell regt sich Widerstand gegen den Pestizid-Wahn in der Welt, ganze Regionen und Staaten steigen aus der Nutzung aus. In Indien haben mehrere Bundesstaaten begonnen, ihre Landwirtschaft auf biologischen Anbau umzustellen und den Einsatz von Pestiziden zu verbieten. Kirgistan plant den kompletten Pestizidausstieg. In Europa soll der Pestizideinsatz bis 2030 halbiert werden – immerhin. Währenddessen wächst die Anzahl an freiwillig pestizid- und glyphosat-freien Gemeinden und Landwirten weiter an. Sie beweisen, dass hoher Ertrag nicht zwingend an chemisch-synthetische Pestizide gekoppelt ist.
Die europäische Chemieindustrie hat indes gute Strategien gefunden, trotz aufkommender Verbote weiterhin Profit mit ihren gesundheitsschädlichen Chemikalien zu machen: Sie werden ganz einfach exportiert. Die EU-Länder genehmigten im Jahr 2018 laut Pestizidatlas der Umwelt NGO „Global 2000“ den Export von mehr als 81.000 Tonnen Pestizidprodukten, die Chemikalien enthalten, die für die Verwendung in Europa verboten sind. In Kenia waren zum Beispiel 230 Pestizid-Wirkstoffe registriert, davon 51 wie Atrazin (Syngenta), Trichlorfon (Bayer) und Fipronil (BASF), die in keinem Land der EU mehr angewendet werden dürfen. Eine Studie über die Pestizidnutzung in Zentralkenia bestätigte auch, dass diese hochgiftigen Pestizide regelmäßig angewendet werden.
Die Hersteller beteuern natürlich, dass ihre Produkte sicher seien und Menschen, Insekten und Gewässer nicht gefährden – wohlgemerkt bei sachgemäßer Anwendung. In der Praxis kann diese nämlich vor allem in Ländern des Globalen Südens oft nicht gewährleistet werden. Schutzkleidung ist in strukturschwächeren Regionen Mangelware. Studien zeigen außerdem, dass viele Menschen, die Pestizide ausbringen, die Anwendungshinweise auf den Packungen nicht lesen können, da sie entweder über eine geringe Schulbildung verfügen oder die Hinweise nicht in den gängigen Landessprachen verfasst sind. Auf dieses Problem weisen auch internationale Organisationen wie die „Food and Agriculture Organization“ der UN (FAO) und die WHO seit vielen Jahren hin. Aber klar, diese Praxis ist keine Heuchelei und auch kein Hohn – es ist einfach ein Geschäft.
Ob die CEOs von Bayer, BASF und Syngenta wohl privat mit ihren Familien Bio-Gemüse essen? Das wäre doch ziemlich heuchlerisch. Interessant war in dem Zusammenhang auch die Rechtfertigung der eingangs erwähnten Klimaaktivisten. Sie meinten, sie hätten den Flug nach Bali „als Privatleute“ gebucht, nicht als Aktivisten. Irgendwie klingt das nach gespaltener Persönlichkeit, ist aber auch ganz normal. Man kann beruflich für etwas einstehen, das man privat ablehnt und umgekehrt. Mit einem Privataccount kann man auf Social Media ganz andere Dinge schreiben als mit dem Unternehmensaccount – „Achtung – bin privat hier!“ Das ist gemeinhin akzeptiert. Vielleicht ist das ja auch ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die Dinge nur so langsam ändern.