Im stillen Osten
Von Jürgen Schmücking
Das andere Sölden und die Entdeckung der Langsamkeit
Wilde Pfade, dunkles Moos und der Duft hochalpiner Vegetation. Wer im Windachtal im oberen Ötztal unterwegs ist, kann viel erleben. Die entspannte Seelenruhe intakter Natur ebenso, wie den Zauber kulinarischer Einfachheit.
Wer Sölden im Ötztal kennt, denkt in erster Linie an erlebnisorientierten Wintersport. Sprich, an hunderte Kilometer stets gut beschneite Pisten, moderne Seilbahnen und Lifte, Hüttengaudi und Après-Ski ohne Ende. Wenn die Corona-Pandemie aber eines gezeigt hat, dann, dass die Zukunft des Halligalli-Tourismus enden wollend ist. Das Skifahren selbst läuft im Moment Gefahr, sich ins Out zu schießen. Dazu tragen völlig überholte und verkrustete Macht- und Denkweisen bei den Seilbahnbetreibern ebenso bei, wie manch unbelehrbare Skifahrer. Das Gute daran ist allerdings, dass durch die neuen Grenzen im Skitourismus der Wandel beschleunigt wird. Eine Beschleunigung in Richtung Entschleunigung. Die Zukunft des Tourismus wird im Stillen liegen, in der Wiederentdeckung der Natur und der Einfachheit, und diese Wiederentdeckung wird umfassend sein. Von der Bewegung und vom Erlebnis hin zur Kulinarik. Sölden ist dafür gut gerüstet. Das verschlafene Windachtal auf der anderen Seite des Orts könnte hierbei zum Vorbild werden. Und Michael Wilhelm, Bergbauer und Schäfer im Tal, zum Schlüsselspieler in diesem Prozess.
Michael Wilhelm ist Bergbauer in Sölden. Er ist auf der anderen Seite des Ötztals daheim. Das Windachtal ist der ruhige Gegenpol zum Ski- und Pistenwahnsinn der anderen Seite. Seit 20 Jahren züchtet Michael Wilhelm hier Yaks und Zackelschafe. Was als waghalsige Idee begann, ist mittlerweile zu einem respektablen Projekt alpiner Kulinarik geworden. Wenn man mit Wilhelm unterwegs ist, empfindet man in erster Linie Verblüffung und Bewunderung. Der Weg von Sölden hinauf ins Hochtal führt über einen schmalen Forstweg. Rechts vom Weg sind steile Hänge, links davon geht es nicht weniger steil bergab. Auf die Straße achtet der Bergbauer beim Fahren kaum. Großen Schlaglöchern weicht er blind aus, über herabgefallene Äste fährt er einfach hinweg. Seine volle Aufmerksamkeit gilt der Umgebung. Sieht er einen Pilz, springt er in die Bremsen. Ein Raubvogel wird so lange mit dem Fernglas verfolgt, bis er ihn identifiziert hat. Auf einer Lichtung am gegenüberliegenden Hang entdeckt er drei Stiere. Es sollten vier sein. Nach etwa zehn Minuten macht er den vierten Stier aus. Er liegt im Schatten ein paar Hundert Meter von seinen Genossen entfernt. Weitergefahren wird aber erst, nachdem der abtrünnige Stier aufgestanden ist und Michael Wilhelm sicher sein kann, dass alles in Ordnung ist. Noch weiter oben, schon über der Baumgrenze, entdeckt der Bauer ein Lamm im Fels. Mit freiem Auge sind dort, wo er hinzeigt, nur weiße Flecken erkennbar. Weiße Flecken, wie sie über den ganzen Hang verstreut sind, Steine, Geröll, hin und wieder ein kleiner Schneehaufen. Das ungeübte Auge bekommt Unterstützung, durch das Fernglas werden die weißen Flecken größer. Aber es bleiben Flecken, keiner von ihnen kann als Lamm identifiziert werden. Bis sich einer dieser Flecken plötzlich bewegt und den Kopf hebt. „Das sollte dort nicht sein. Das werd‘ ich holen müssen“, sagt Michael Wilhelm. Er steigt in seinen Geländewagen um weiterzufahren, allerdings nachdenklicher als zuvor.
Michael Wilhelm ist ein wacher und feinsinniger Geist mit künstlerischer Ader. Nachdem die Eltern früh starben, musste er den Hof in sehr jungen Jahren übernehmen. Er war damals 16 Jahre alt. Die Entscheidung für die Landwirtschaft, für seine Tiere, bereut er bis heute nicht, keine Sekunde. Und obwohl ihm die Landwirtschaft oder vielmehr das Bauersein, wie er es nennt, in die Wiege gelegt wurde, schuf er sich ein zweites Standbein. Er studierte Holz- und Steinbildhauerei und wurde darin so gut, dass er für einen von ihm gebauten Altar ausgezeichnet wurde. Irgendwann wurde ihm aber klar, dass er sich zwischen Künstler- oder Bauersein entscheiden musste und diese Entscheidung war kristallklar. Zu sehr lagen ihm seine Tiere am Herzen, zu sehr fühlte er sich dem Hof und der Alm verpflichtet.
Vor ungefähr 20 Jahren stand die nächste Entscheidung an. Wobei „Entscheidung“ vielleicht der falsche Begriff für die Aktion ist. In einem Anfall jugendlichen Leichtsinns kaufte Wilhelm fünf Yaks – kleinwüchsige, zottelige Rinder, die ihren Ursprung in Zentralasien haben. Man findet sie im Hochland des Himalaja, in den Steppen der Mongolei bis oben hin im Süden Sibiriens. Ihre Herkunft machte sie jedenfalls für die heimische Bauernvertretung verdächtig. Schroffe Ablehnung erfuhren sie und Wilhelm seitens der Landwirtschaftskammer und das mit Begründungen, die, wohlwollend ausgelegt, zumindest abenteuerlich sind: „Gehören nicht hierher“, „Was, wenn sich diese Yaks mit unseren Grauvieh-Rindern kreuzen?“, „Braucht kein Mensch.“ Die offene Ablehnung durch die Bauernvertretung führte dazu, dass die Yaks anfangs nicht auf die Alm durften und in den Stall mussten. Worauf die Tiere krank wurden und ihr Fell verloren. Mittlerweile verbringt die Herde (aus den fünf Tieren wurde eine stattliche Gruppe von ungefähr 40 Yaks) den Sommer hoch droben im Windachtal und den Winter in Längenfeld, weiter unten im Ötztal.
Für Michael Wilhelm war die xenophobe Argumentation der Kammer (und mancher Kollegen) nicht nachvollziehbar. Schließlich finden seine Yaks im Windachtal genau jene Bedingungen, die sie brauchen: trockenes, kühles Klima und hochalpine Landschaft. Wenn es ihnen auf 2.500 Metern zu warm ist, kann es durchaus sein, dass sie noch weiter hinaufgehen. Auf etwa 2.700 Metern liegt die Siegerlandhütte und hinter ihr ein (auch im Sommer) eiskalter Bergsee. Immer wieder kommt es vor, dass die Yaks Abkühlung suchen und sich darin baden. Yaks haben eher kurze Beine und in Verbindung mit dem langen Fell sieht das aus, als würde ihnen Bodenfreiheit fehlen. Dabei bewegen sie sich im Gelände unglaublich schnell und geschickt. Wenn Michael Wilhelm sie besucht, kommen sie angetrabt. Sie kennen seinen Wagen und sie kennen ihn.
Neben den Yaks und den erwähnten Tuxer/Wagyu-Rindern hat Michael noch Zackelschafe am Hof. Das sind – wie die Yaks – langfellige, zottelige Schafe mit langen, kerzengeraden, aber schraubenförmig gedrehten Hörnern. Es ist die letzte erhaltene Rasse mit dieser Art von Hörnern, der Bestand gilt als hochgradig gefährdet. Wandert man im Sommer das Windachtal entlang, kann es vor allem weiter oben, wo es schon karg und steinig wird, passieren, dass man ein paar Yaks oder einer Herde Zackelschafe begegnet.
Sie und auch Michael Wilhelm kann man auf ihrer Alm besuchen. Der Anstieg zur Windachalm von Sölden aus dauert etwa zwei Stunden. Es ist eine urige Alm, ohne Strom, ohne fließendes Wasser. Ein oder zweimal im Jahr treffen sich Köche aus der Spitzen-gastronomie dort oben, sammeln wilde Kräuter, wandern zum nächsten Gebirgssee oder schlachten vor der Hütte ein Schaf. Dann heizen sie den Holzofen an und zaubern aus dem, was sie gesammelt, gefischt oder geschlachtet haben, einfache Gerichte.
Jedenfalls ist Söldens weniger bekannte Seite ein Wanderparadies. Es beginnt mitten im Ort und reicht von moosigen Wäldern über satte Almböden bis hin zu kargen, felsigen Flächen auf über 3.000 Metern, wo man auch im Sommer noch mächtige Schneefelder entdecken kann. Gleich am Eingang zum tief eingeschnittenen Windachtal regt der Waalweg Mooserstegle dazu an, die Natur spielerisch zu erkunden und achtsam zu beobachten.
Der mit dem österreichischen Wandergütesiegel ausgezeichnete Weg startet beim Ortsteil Windach neben der Ötztaler Ache. Als leicht eingestuft, ist er für jeden Naturfreund machbar. Gleich zu Beginn zeigt ein Blick in die tiefe Schlucht der Windacher Ache, was Wasserkraft zu formen vermag. Später führt der Wanderweg über eine Brücke zum Mooserstegle, wo der rekonstruierte Waal die Wanderer begleitet.
Das Windachtal erstreckt sich Richtung Osten bis in die Stubaier Alpen, zahlreiche Wege und Steige führen weiter auf Südtiroler Boden ins hintere Passeiertal. Familien wie ambitionierte Wanderer haben hier eine schöne Auswahl an Touren, die mit etwas Erfahrung und Vorsicht auch ohne Bergführer zu bewältigen sind. Zur Stärkung stehen mehrere Hütten, teils mit Möglichkeit zum Übernachten, zur Verfügung.
Die Brunnenberg Alm auf 1.973 Metern unter dem Brunnenkogel ist die älteste bewirtschaftete Almhütte Tirols. Ein Jungspund scheint dagegen das 2007 erbaute Brunnenkogelhaus ein paar Hundert Meter höher. Trotz seiner exponierten Panoramalage lässt sich das komfortable Refugium relativ leicht erwandern. Und auch die dritthöchste Hütte Österreichs thront auf Söldens stiller Seite: Die Hochstubaihütte auf 3.174 Metern dient als Anlaufpunkt zahlreicher Übergänge und Gipfelbesteigungen. Auf mehrtägigen Wanderungen von Hütte zu Hütte ist sie stets der Höhepunkt.
Ein letzter Tipp: ein Besuch der Stallwies Alm. Man sieht von ihr aus zwar hinüber auf die monströsen Liftanlagen, ist aber auf der sicheren Seite und kann die Ruhe des Windachtals genießen. Die Stallwies Alm ist der ideale Ausgangspunkt für weitere Hochgebirgstouren: Laubkarsee, Hochstubaihütte, Söldenkogl, die Siegerlandhütte. Auf der Hütte selbst gibt es urige Hüttenkost und sensationelle Speckjausen, üppige Brotzeiten und gute Wurst.
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www.wurstakademie.com/experten/alpinmanufaktur-michael-wilhelm-
soelden-at
www.stallwiesalm.at/