Interkulturelles Kreativlabor
Im Rahmen der offenen Werkschule „Bildungsmanufaktur“ können junge Menschen in den Kreativwerkstätten vielfältige handwerkliche Fähigkeiten erlernen. Foto Luis Krummenacher
Das Berliner Stadtlabor „S27 – Kunst und Bildung“ ermutigt junge Menschen verschiedener Herkunft, mittels kreativer Experimente zentrale Themen unserer Zeit zu erforschen. Dabei fördert es zugleich auf intensive Weise soziale Interaktion und kulturellen Austausch.
Joseph Beuys verstand Kunst seinerzeit bekanntlich als Soziale Skulptur – aber welche gesellschaftliche Wirkkraft hat sie heute? Um darüber nachzudenken, lohnt es sich, ein paar der vielfältigen Projekte anzuschauen, die das Berliner Kunst- und Kulturhaus „S27“ auf seiner Webseite präsentiert: Ob selbst gebaute Einnistungen in ungenutzten urbanen Nischen, textile Experimente mit europäischen Altkleidern, die auf afrikanischen Märkten rückgekauft wurden, oder die Ausgrabung von Trümmerresten, die zusammen mit Zeitzeugen-Tonaufnahmen von der verschütteten Geschichte Berlins erzählen. Nicht nur die Resultate dieser Projekte sind bemerkenswert, sondern auch die vorausgehenden Prozesse: die „S27“ nutzt die kreative Zusammenarbeit, um junge Menschen mit und ohne Fluchterfahrung auf besondere Weise zu fördern und ihnen zu ermöglichen, aktiver Teil unserer Gesellschaft zu werden.
Das Stadtlabor wurde bereits Anfang der 1980er Jahre unter dem Namen „Schlesische27“ gegründet – angelehnt an den Standort in der Schlesischen Straße 27, wobei das Team inzwischen den verkürzten Namen „die S27“ nutzt. Gemeinsam mit Kulturschaffenden aller Sparten und Kreativen aus Handwerk und Wissenschaft entwickelt das Team innovative Bildungskonzepte, bei denen junge Menschen ihre schöpferischen Fähigkeiten entfalten und dadurch aktiv an der Weiterentwicklung der Gesellschaft und ihrer Umwelt teilnehmen können. Hierbei greift die „S27“ auch Konzepte aus der Montessori- und Bauhauspädagogik sowie dem historischen „Black Mountain College“ auf und interpretiert diese neu.
Die Projekte zielen darauf ab, die Sinne der Jugendlichen zu schärfen und sie zu ermutigen, Utopien zu entwickeln. Das Kunst- und Kulturhaus bearbeitet ein breites Spektrum an Themenfeldern: Neben sozialer Transformation, Demokratieentwicklung und Dekolonialisierung geht es etwa um Stadt-Raum-Veränderungen. Außerdem widmet sich die „S27“ der Kultur des Handwerks und der Arbeitswelten und fokussiert zirkuläre Prozesse, Recycling und Re-Design. Darüber hinaus setzt sich das Team auch mit Zeitgeschichte und Erinnerungskultur auseinander.
Bild links: Im Rahmen der offenen Werkschule „Bildungsmanufaktur“ können junge Menschen in den Kreativwerkstätten vielfältige handwerkliche Fähigkeiten erlernen. Foto Luis Krummenacher
Bild rechts: Schuhe aus Teppichen: Beim Projekt „Domestic Affairs“ experimentierte das Team mit Alltagsgegenständen vom Trödelladen nebenan. Foto Philip Crawford/Studio Karfi
Viele der Konzepte inspirieren dazu, den Blick auf Gewöhnliches, Alltägliches zu verändern und davon ausgehend Ungewöhnliches zu erschaffen. Ein Beispiel hierfür ist das „Domestic Affairs“-Projekt der „S27“ Gruppe Studio Karfi (künstlerische Leitung: Philip Crawford). Hier ging es darum, sich kritisch mit dem Häuslichen und Heimischen auseinanderzusetzen, den herkömmlichen Heimatbegriff – der zugleich Abgrenzung und Ausschluss beinhaltet – zu hinterfragen und Ideen für ein globales Zuhause zu entwickeln. Das Konzept richtete sich an junge Geflüchtete im Alter von 15 bis 27 Jahren, die aus verschiedenen Krisenregionen der Welt stammen. Gemeinsam trugen sie 2023 Alltagsgegenstände aus der Umgebung und vom benachbarten Trödelladen „Aatik“ zusammen. Diese Objekte bildeten den Ausgangspunkt für verschiedene Experimente, die das Team in einem von der „S27“ genutzten Ladengeschäft in der Schlesischen Straße 10 durchführte und ausstellte. Auf Basis von Orientteppich-Imitaten aus der DDR und aus Westdeutschland entwickelte Studio Karfi zum Beispiel Schuhwerk der besonderen Art: Das Team schneiderte die statischen Objekte zu beweglichen um und verwandelte dabei die industriell gefertigten Massenprodukte in handwerklich hergestellte Unikate.
Unter dem Titel „Copy Shop“ setzte sich das Team außerdem mit der Frage nach dem Wert häuslicher Gegenstände auseinander und untersuchte, was passiert, wenn man den Gebrauchswert der Dinge entfernt. Hierfür stellte es mit Pappe und Papier 1:1-Modelle der Objekte her, die im benachbarten Trödelladen zum Verkauf angeboten wurden. Anlässlich der „Art Week“ 2023 präsentierte Studio Karfi in der Schlesischen Straße 10 schließlich den „Copy Shop“, in dem die Modelle – ohne Gebrauchswert, aber mit ganz neuen Qualitäten – ausgestellt waren.
Beim Projekt „Les Microbes“ entwickelten Geflüchtete aus Abfallmaterialien Modelle ihrer eigenen Raumerinnerungen. Fotos Luis Krummenacher
Neben solchen Experimenten rund um alltägliche Gegenstände führt die „S27“ auch Projekte durch, die sich gezielt mit Fluchterfahrung beschäftigen. So fand im vergangenen Jahr beispielsweise ein Kurs statt, bei dem die Teammitglieder Modelle ihrer eigenen Raumerinnerungen entwickeln konnten. Unter der Leitung des bildenden Künstlers Matze Görig trafen sich zwischen fünf und 25 junge Menschen aus Ländern wie Gambia, Kamerun oder Afghanistan über viele Monate hinweg etwa drei Mal die Woche und bauten die im Inneren bewahrten Gebäude, Ruinen und Plätze mit den eigenen Händen nach. Hierbei verarbeiteten sie vor allem Sperrmüll und andere Abfallmaterialien, die sie in der Umgebung sammelten. Einzelne Details, etwa Autos oder eine Palette, wurden zusätzlich in einem 3D-Druck-Workshop hergestellt. Die Miniaturwelten präsentierte die „S27“ kürzlich in einer Ausstellung im „Falschen Fisch“, einem ehemaligen Fischrestaurant, das sie temporär als ein weiteres Stadtlabor nutzen kann.
Außerdem dienten die Raummodelle als Kulisse für einen Animationsfilm, der die Fluchterfahrungen des Teams episodenhaft in experimentellen Bildern beschreibt. Basierend auf den Fotos der Gebäudemodelle wurden hierfür per Künstlicher Intelligenz (KI) die Innenräume generiert und an die jeweiligen Erinnerungen sorgfältig angepasst. Die Bildsequenzen sind akustisch mit dem Gedicht „Les Microbes“ des Kursteilnehmers Gauthier unterlegt, der den Text selbst spricht. Darin beschreibt er ein leerstehendes koloniales Gebäude in Kamerun, das sowohl Prostituierte und Drogenhändler als auch Waisenkinder beherbergte. „Er spricht auf expressionistische Weise über die Schlechtigkeit der Welt, und dass die Reise für viele, die es nach Europa geschafft haben, nie aufhört“, erzählt Matze Görig. „Sie stecken hier fest, sind zum Warten gezwungen, dürfen nicht arbeiten und haben keine Perspektive – dabei schlummert so viel Kreativität, Energie und Potenzial in ihnen“, erklärt er. Der Film, der nach Gauthiers Gedicht benannt ist, gibt ihm und allen anderen, die aus unterschiedlichsten Gründen fliehen mussten, eine Stimme und spiegelt zugleich viel Wertschätzung für ihre Geschichten.
Das Thema Inklusion geht die „S27“ insgesamt sehr ganzheitlich an. Die temporären Projekte „Domestic Affairs“ und „Les Microbes“ sind Teil der offenen Werkschule „Bildungsmanufaktur“, einem mehrjährig laufenden Programm. Es bietet Jugendlichen und geflüchteten jungen Menschen mit besonderem Stabilisierungs- und Orientierungsbedarf eine langfristige Begleitung in Richtung Berufsausbildung. Die Aktivitäten in den kreativen Designwerkstätten werden von Deutschunterricht, Sozialarbeit und Round Tables für politische Bildung flankiert. Fazit: Wenn Beuys noch leben würde, müsste er eigentlich vor der „S27“ seinen Hut ziehen.
Weitere Informationen: s27.de