Janusköpfiges Selfie

Unkonventionelle Eleganz, aufgeladen mit Zorn über den Fashion-Irrsinn: Die Modedesignerin Sonia Carrasco gründete 2019 in Barcelona ihr eigenes Label, das konsequent auf ökologische und soziale Werte setzt.
Von Jutta Nachtwey

„Your fashion is killing my world“ – diese Botschaft schrieb Sonia Carrasco auf die T-Shirts ihrer ersten Kollektion. Sie machte damit auf Anhieb klar: Ihr Label ist eine stylische Kampfansage an die herkömmliche Modeindustrie. Auch der Name dieser Kollektion – „33.394759, 124.969482“ – legte den Finger in die Wunde: Die Ziffernfolge leitet sich aus den Geodaten des Great Pacific Garbage Patch zwischen Hawaii und Kalifornien ab. Zur Fülle des dort herumtreibenden Plastikmülls hat die Modeindustrie aus Sicht Carrascos erheblich beigetragen. Mit der zweiten Kollektion namens „45.376543, 59.651328“ lenkt sie den Blick auf den Aralsee zwischen Usbekistan und Kasachstan, bei dessen Austrocknung der hohe Wasserverbrauch für die Baumwollproduktion eine zentrale Rolle spielt.
Ihre kritische Haltung gegenüber der Fashion-Branche resultiert jedoch nicht nur aus theoretischem Wissen, sondern auch aus praktischer Erfahrung. Nach dem Studium am Instituto Europeo di Design in Madrid und am Central Saint Martins College of Arts & Design in London arbeitete sie für Zara, Alexander McQueen und Céline – und beschloss, lieber ein eigenes Label zu gründen, das konsequent auf Verantwortung setzt. Ihre ehrgeizigen Ziele umschreibt das Label manifestartig auf seiner Website: „Wir wollen uns vom hohen Tempo der Industrie abwenden und versuchen, einen alternativen Weg des Modekonsums anzubieten.“ Dabei will sich die Marke auch klar von der Konkurrenz abheben: „Wir sind vom Greenwashing der Branche gelangweilt und entschlossen, uns nicht daran zu beteiligen.“

Bei der Umsetzung ihrer Ziele spielt die Wahl der Materialien für Sonia Carrasco eine zentrale Rolle.
Die Stoffe werden in spanischen und italienischen Webereien hergestellt. Sie verwendet zum einen Textilien aus ökologisch erzeugten Fasern, zertifiziert durch den Global Organic Textile Standard (GOTS), der Kriterien hinsichtlich ökologischer und sozialer Verantwortung für die gesamte Herstellungskette definiert und deren Einhaltung kontrolliert. Zum anderen verarbeitet sie Stoffe aus recycelten Fasern, etwa Polyester oder Nylon aus Plastikflaschen, zertifiziert durch den Global Recycled Standard (GRS), der unter anderem Rückverfolgbarkeit der Materialien und Transparenz in der Produktionskette garantiert sowie Anforderungen an das Umweltmanagement und an die soziale Verantwortung stellt.
Insgesamt basieren laut Carrasco 80 Prozent aller verwendeten Stoffe auf Recycling, wobei sie bewusst auf Post-Consumer-Material setzt. Auch die Cashmere-Wolle ist recycelt und wird zwecks Haltbarkeit durch einen geringen Anteil an Merinowolle verstärkt. Die Reißverschlüsse sind recycelt und recycelbar, die Label bestehen aus Polyester, hergestellt aus Plastikflaschen aus dem Meer. Darüber hinaus verwendet sie Stoffreste aus ihrer eigenen Produktion in kommenden Kollektionen, um den Abfall konsequent zu minimieren.
Dennoch würde sie ihre Marke selbst nicht als „nachhaltig“ bezeichnen – zum einen, weil der Begriff aus ihrer Sicht von vielen Unternehmen sinnentleert wurde, zum anderen möchte sie lieber mit Style als mit Umweltengagement assoziiert werden. Aus ihrer Sicht muss Letzteres zwingend die Basis sein, aber man muss sich dafür nicht andauernd selbst beweihräuchern.
Carrasco arbeitet mit Zulieferern, die ihre Werte teilen, und lässt die Kleidungsstücke in Nähereien in Barcelona herstellen, die ebenfalls auf Verantwortung, Nachhaltigkeit und Transparenz setzen. Die Marke unterstützt darüber hinaus Organisationen wie Fundació Ared, die sich für Frauen einsetzen, die von häuslicher Gewalt oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind.

Ihren Style bezeichnet Carrasco selbst als zeitlos – wohl weil sie Elemente klassischer Eleganz einbindet –, allerdings setzt sie diesen formalen Zitaten absolut unklassische Elemente entgegen, was für eine eher unkonventionelle Eleganz sorgt. Beispielsweise versieht sie Jacken einseitig mit einem doppelten Revers, fügt per Schichtung zwei absolut heterogene Blusenschnitte zu einem einzigen zusammen oder versetzt die sonst innenliegenden Taschen nach außen.
Dass Sonia Carrasco darüber hinaus auch gesellschaftliche Entwicklungen im Blick hat, zeigte sie mit der Kampagne, welche die Spring-Summer-Kollektion 2020 begleitete. Diese widmete sich ganz und gar dem Selfie-Kult der Social Media Era und war als eine Art Kommentar zu unserer Kultur konzipiert, in der die Konsumenten selbst zu Models und Fotografen geworden sind. Die Fotos feiern diese neuen Rollen und den damit verbundenen kreativen Freiraum. Sie sollen laut begleitendem Pressetext jedoch auch die Frage aufwerfen, ob es gesellschaftlich akzeptabel geworden sei, narzisstisch zu sein. Ihre Kollektionen ermuntern die Konsumenten jedenfalls dazu, den Blick eben nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Welt ringsum, inklusive den Great Pacific Garbage Patch und den austrocknenden Aralsee, zu richten – und vor diesem Hintergrund das eigene Konsumverhalten zu hinterfragen.
Auf indirekte Weise weckt Sonia Carrasco das Bewusstsein dafür, dass jedes Selfie zwei Seiten hat: Die Vorderseite zeigt die Schönheit, die Rückseite die Wahrheit über die getragenen Kleider. Das digitale Selbstbild ist also eigentlich doppelgesichtig – wie der Januskopf, der in entgegengesetzte Richtungen blickt. Wer ihre Kleider trägt, braucht den eigenen Kopf nicht starr zu halten: Auch das abgewandte Antlitz kann sich sehen lassen!


In Deiner ersten Kollektion spielst Du mit der Verkehrung von innen und außen. Welchen Hintergrund hat dieses Gestaltungsprinzip?
Die Inspiration für diese Kollektion basierte auf der Erkundung der dunkelsten, oft verborgenen Seiten des Menschen – Skrupellosigkeit und Verzweiflung. Deshalb habe ich zum Beispiel die Taschen und die Nähte sichtbar gemacht – als ob das Innere nach außen gewendet wäre.

„Your fashion is killing my world“ – An wen genau hast Du diese drastischen Worte auf Deinen T-Shirts gerichtet?
Das ist eine Botschaft an die gesamt Modeindustrie – nicht nur die Gestalter, sondern auch die Konsumenten, die Teil dieser Industrie sind.

Wie haben Deine Erfahrungen bei Zara, Alexander McQueen und Céline die Ausrichtung Deiner eigenen Marke beeinflusst?
Mir wurde klar, was ich machen möchte und was ich nicht machen möchte. In diesen Zeiten hat es keinen Sinn, eine Marke ohne soziale oder nachhaltige Werte zu schaffen. Aus meiner Sicht gibt es keine Option, einen anderen Weg zu gehen.

Einige große Marken reduzieren inzwischen immerhin die Anzahl ihrer Kollektionen. Wie wirksam sind solche Strategien aus Deiner Sicht?
Wenn man die Anzahl der Kollektionen reduziert, aber dafür die Anzahl der Looks erweitert, dann läuft das am Ende aufs Gleiche hinaus. Es ist eine Schande, dass diese Marken solche Maßnahmen als Nachhaltigkeitsstrategie ausgeben, anstatt grundsätzlich ehrlich und transparent zu sein.


Informationen. Mehr zum Thema
theoceancleanup.com
sonia-carrasco.com


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