Konstruktive Alpen
Constructive Alps. Bergkapelle Kendbruck. Foto Albrecht Imanuel Schnabel
Die Internationale Alpenschutzkommission CIPRA setzt sich seit fast 70 Jahren für den Schutz der Alpen sowie für sozial- und ökologisch nachhaltige Lebensmodelle in den Alpen ein, „damit der Dachgarten im Herzen Europas weiterhin blüht und gedeiht“. Von Anna Greissing
Die Alpen umfassen einen umwelt- und kulturgeschichtlich höchst vielfältigen Lebensraum, der durch unterschiedlichste Landschaften, Lebens- und Wirtschaftsformen geprägt ist. Das Potenzial dieses einzigartigen Raums, der sich über acht Länder erstreckt, zu fördern und für zukünftige Generationen zu bewahren, ist Anliegen des alpenweiten Netzwerks CIPRA – durch politische Arbeit, Expertise, Vernetzung, Impulsgebung und die Umsetzung zahlreicher Projekte mit vielfältigen diversen Partnerorganisationen. Im Interview spricht der Geschäftsführer von CIPRA International, Kaspar Schuler, über aktuelle Projekte und die Zukunft der Alpen.
Wie kam es zur Gründung von CIPRA?
Kaspar Schuler: Die Idee entstand bereits 1952 in der Internationalen Naturschutz-
Union (IUCN), als erkannt wurde, dass grenzüberschreitendes Handeln notwendig wurde, um Naturräume in den Alpen zu schützen. Unmittelbarer Auslöser waren einige im Zuge des aufkommenden Wirtschaftswachstums nach dem Krieg geplante Großprojekte: Flüsse sollten verbaut oder umgelenkt und intakte Naturlandschaften zerstört werden. Ab den 1970er Jahren bildeten sich dann die nationalen Vertretungen in sieben Mitgliedsländern. Die erste war
CIPRA Österreich 1975, mit dem Ziel, die jeweiligen Erfahrungen vor Ort mit den anderen Alpenregionen zu teilen und sich gemeinsam über sprachliche, kulturelle, geografische und politische Grenzen hinweg für eine nachhaltige Entwicklung in den Alpen einzusetzen.
CIPRA International mit Sitz in Liechtenstein fungiert als Dachorganisation, die zur Vernetzung und Kommunikation zwischen allen Standorten und zusätzlichen Partnern beitragen, die politische Arbeit bündeln und dabei den Weitblick wahren soll.
Was ist für Sie der bisher größte Erfolg in der Arbeit von CIPRA?
Es gibt sehr viele Einzelerfolge in Projekten, Strukturen, Netzwerken und Partnerschaften, die sich konsolidiert haben, Schutzgebiete, die errichtet wurden. Es hat sich auch nicht zuletzt dank des Architekturwettbewerbs „Constructive Alps“ viel getan beim hochklassigen, ökologischen und energie-optimierten Bauen. Das Wichtigste aber und die Basis bis heute für unsere gesamte Arbeit, ist zweifelsohne die Alpenkonvention von 1991, für die 40 Jahre Vorarbeit geleistet werden musste. Dieser völkerrechtliche Vertrag, der von allen acht Alpenländern und der EU unterzeichnet wurde, besiegelt ein gemeinsames Übereinkommen zum Schutz der Alpen, aus dessen Verpflichtung die Alpenländer ein Bewusstsein darüber entwickeln konnten, wo gemeinsame Probleme und Herausforderungen liegen und wie zusammen Lösungen gefunden werden können. Aus diesem Verständnis heraus haben sich zahlreiche langjährige Aktivitäten entwickelt, deren Ziel es ist, Lebens- und Wirtschaftsformen in den Alpen zu unterstützen, die schonend mit der Natur und den Ressourcen umgehen. Das ist nicht immer ein großes Projekt oder eine neue Technologie, sondern beinhaltet manchmal ein Reaktivieren oder Anpassen von alten Traditionen und Arbeitsweisen. Aktuell entwickeln wir zum Beispiel ein Projekt, das sich mit den Möglichkeiten von genuin alpiner Haltbarmachung beschäftigt, beispielsweise mit Formen des Trocknens, Einmachens oder Fermentierens. Ziel vieler Pilotprojekte ist es, das große, oft sehr spezifische Erfahrungswissen der Alpen einzufangen und weiterzugeben.
Welche Themen und Projekte stehen derzeit im Mittelpunkt der Arbeit von CIPRA und ihren Partnerorganisationen?
Wir haben unsere Projekte drei Themenschwerpunkten zugeordnet. Zum einen Natur und Mensch: Hier geht es vor allem um Ressourcenmanagement und Ökosystemleistungen, etwa die Erhaltung besonderer alpiner Landschaftsräume; aber auch um den achtsamen Umgang mit der alpinen Tierwelt. Im laufenden Projekt „speciAlps2“ testen beispielsweise Pilotregionen aus vier Ländern Maßnahmen zur Besucherlenkung, um die alpine Natur vor Ort intakt zu halten.
Im zweiten Themenbereich, Wirtschaft im Wandel, macht sich CIPRA International für ein wirtschaftliches Umdenken in Richtung Nachhaltigkeit stark. Dafür vernetzen und sensibilisieren wir Politik, Verwaltung, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. In den Projekten geht es unter anderem um die Förderung grüner, regional basierter Wirtschaftsformen, die Diskussion um Klimafreundlichkeit im Tourismus und die Verkehrsbewältigung. Eines unserer Projekte dazu heißt „Aktive Pendlermobilität“: Dabei motivieren Pilotbetriebe Mitarbeitende zum Umsteigen auf Öffis und Fahrrad. Damit tun die Menschen einerseits etwas Gutes für ihre Gesundheit, andererseits hilft das auch der Umwelt – es reduziert den Auto-Pendlerverkehr.
Beim dritten Themenschwerpunkt, der Sozialen Innovation, geht es um die Entwicklung kreativer Ideen und neuer Formen des gesellschaftlichen Miteinanders, die nachhaltige Lebensstile und echte Mitgestaltung in den Alpen ermöglichen. Hier ist uns die Beteiligung der Jugend besonders wichtig. In unserem Projekt „Alpine Changemaker Basecamp“, das im vergangenen Sommer erstmals in der Schweiz stattfand, konnten sich junge Menschen sechs Tage lang mit Gleichgesinnten zu neuen Zukunftsperspektiven für ein gutes Leben in den Alpen austauschen und mit der Unterstützung eines Teams internationaler Coaches aus verschie-
densten Disziplinen eigene Projekte zu sozialem Wandel erarbeiten. Mit „Youth Alpine Interrail“ haben wir seit 2018 ein anderes wichtiges Vorzeigeprojekt für junge Menschen, das erlebnisreiche, klimafreundliche Mobilität in den Fokus rückt.
Zusätzlich zur Umsetzung zahlreicher Projekte agiert CIPRA auch direkt in der Alpenpolitik und erstellt Positionspapiere und Stellungnahmen zu aktuellen Themen. Gibt es Trends in der Entwicklung der Alpen, die Sie aktuell erkennen?
Hierzu gäbe es viel zu sagen, die Alpen sind so vielfältig! Zum einen sollten wir in den Alpen wieder ein echtes Migrationsbewusstsein an den Tag legen. Die Alpen sind und waren immer schon ein klassischer Migrationsraum, bei uns herrschte immer ein Kommen und Gehen. Alles, was in den Alpen zu einer Veränderung oder Entwicklung im positiven Sinne beigetragen hat, ist durch Migration von Menschen und Ideen entstanden. Da kamen Leute herein, die aus verschiedenen Gründen im einfach zu bewirtschaftenden Flachland keinen Platz hatten. Die mussten extrem hart arbeiten, um zu überleben und sich anzupassen. Wir haben also in den Alpen eine große Erfahrung, wie verschiedene Gruppen auf unterschiedlichen Höhenlagen weitgehend friedlich neben- und bzw. miteinander leben. Aus diesem Mix ist die Vielfalt entstanden, die wir heute haben und die das Potenzial der Alpen ausmacht. Wer, wenn nicht wir in den Alpen, sollte also Flüchtlinge aufnehmen? Ein Großteil der afghanischen Landbevölkerung zum Beispiel weiß sehr genau, wie man trotz karger Bedingungen in den Bergen lebt und wirtschaftet. Diese Leute müssten wir eigentlich herzlich willkommen heißen!
Außerdem sehe ich einen vorhandenen Trend in qualitativ starker Architektur und dem energieeffizienten Bauen in den Alpen. Hier heißen die Stichworte Suffizienz und Reduktion. Umzustellen auf andere Energieträger allein, ist heute zu wenig, um den Klimawandel einzubremsen. Es braucht vor allem Reduktion, bei Energie- und Rohstoff-einsatz sowie dem Raumbedarf. Innovative Bauprojekte legen den Fokus auf clevere Möglichkeiten der Renovierung alter Gebäude. Das widerspricht zwar der kapitalistischen Grundhaltung des ungebremsten Wachstums, ist aber genau das, was wir für mehr Nachhaltigkeit zum Überleben auf der Erde brauchen.
Wo sehen Sie aktuell den größten Hemm-Faktor bei der Umsetzung nachhaltiger Strategien im Alpenraum?
Der Knackpunkt ist meiner Meinung nach ein falsches Bewusstsein in der Krisenbewältigung. Beim Herangehen an Probleme mangelt es an echtem Umdenken: statt neue Lösungen zu finden, werden immer noch alte Konzepte – die oft gar nicht funktioniert haben – neu aufgelegt. Zum Beispiel wollen manche dem Hochwasserproblem immer noch mit der Begradigung von Flussbetten und der Erhöhung der Dämme begegnen, um den Wasserabfluss zu erleichtern. Was wir jetzt aber brauchen sind natürlich gestaltete Flussraum-Aufweitungen, in welchen sich die Wassermassen verlangsamen, sich ungefährlich breit machen und das Grundwasser nähren können. Dort blühen zugleich die Artenvielfalt wie auch der Naherholung suchende Mensch auf. Allgemein gilt: Jetzt steht’s klimapolitisch Spitz auf Knopf, wir sind gefordert, schnell und mutig zu handeln, um das große Rad der alpinen Entwicklung in die richtige Richtung zu drehen!