Kreatives Kontrastprogramm

Foto Mark Asekhame

Das Stockholmer Fashion-Label Rave Review setzt voll und ganz auf Upcycling gebrauchter Stoffe und stellt diesen Ansatz durch die gestalterische Formensprache der Kleider offensiv in den Vordergrund.
Von Jutta Nachtwey

Ausgediente Gardinen, Bettwäsche, Tischdecken oder Wolldecken – im Secondhand-laden gehen viele Leute achtlos an diesen oft wild gemusterten, manchmal muffigen Stapeln vorbei. Josephine Bergqvist und Livia Schück taten das Gegenteil: Sie durch-kämmten solche Stoffberge aus benutzten Heimtextilien mit Engelsgeduld und pickten für ihre zukünftigen Fashion-Entwürfe mit sicherem Gespür jene Gewebe heraus, die das Potenzial hatten, in einem anderen Kontext eine ganz andere Wirkung zu entfalten.
Die beiden lernten sich am Beckmans College of Design in Stockholm kennen und gründeten 2017 ihr eigenes Label namens Rave Review, das Secondhand-Heimtextilien in High-End-Fashion verwandelt und die Kleider innerhalb Europas produziert. Zwar blieben sie den Heimtextilien bis heute treu, allerdings verarbeiten sie inzwischen auch Secondhand-Kleidung und Restposten-Stoffe. Und natürlich durchstreifen sie nicht mehr selbst die Kleidermärkte, sondern kooperieren mit zahlreichen Sammelstellen und Recycling-Firmen – vorwiegend in Schweden ansässig –, die sie zwecks Vorsortierung genau briefen.


Da von den zusammengekauften Stoffen jeweils nur begrenzte Mengen verfügbar sind, lassen sich auf diese Weise nur Unikate herstellen. Dabei verarbeiten Josephine Berg-qvist und Livia Schück auch die entstehenden Reste in immer neuen Kombinationen, sodass möglichst gar kein Abfall übrig bleibt. Sie schätzen die spielerischen Aspekte ihrer gestalterischen Arbeit, zu denen sie das Ausgangsmaterial verpflichtet.
In ihren Styles ist das zugrunde liegende Konzept unmittelbar erfahrbar: Die Designer-
innen betonen die Heterogenität der einzelnen Fragmente, indem sie beispielsweise unterschiedlichste Muster gegeneinander setzen – ein radikales visuelles Kontrastpro-gramm. Die Entwürfe wirken wie stoffliche Collagen, welche die vorausgegangene De-konstruktion des Ursprungsmaterials erkennen lassen. Man könnte sie also als Klei-dungsstücke betrachten, die auf plakative Weise eine Botschaft kommunizieren – sie erzählen und verkörpern die Idee eines kompromisslosen Upcyclings, das scheinbar wertlose Materialien in wahre Schätze verwandelt. Gleichzeitig werden die Geschichten, die in den gebrauchten Textilien haften, decollagiert und zu ganz neuen Geschichten verarbeitet – etwa durch die Themen der jeweiligen Kollektion.

Die aktuelle Herbst-Winter-22 Kollektion feiert die schwedische Club-Kultur der 1990er Jahre. Ihren Ursprung hat sie in der dauerhaften Fehlinterpretation des Namens Rave Review. Immer wieder wurden die Designer-innen gefragt, ob er etwas mit der Rave-Kultur zu tun hätte, und immer wieder stellten sie klar: Passend zum Ansatz ihrer Marke hatten sie den Namen Rave Review auf dem Etikett eines Secondhand-Kleidungsstücks gefunden und quasi recycelt. Im Deutschen ließe sich der Name übrigens mit „Glänzende Kritik“ übersetzen – der Erfolg der Marke war also schon im Namen als Ziel gesetzt. Da sie jedoch weiterhin nach dem Zusammenhang mit der Rave-Kultur gefragt wurden, beschlossen sie, dem Thema eine Kollektion zu widmen und ihre eigenen Rave-Erfahrungen einfließen zu lassen. Auch hier spielen sie mit extremen Kontrasten, ob im Mustermix oder dem starken Gegensatz von oversized und figurbetont.
Glänzende Kritiken und zahlreiche Auszeichnungen erhielten sie seit ihrem Debüt auf der Pariser Fashion Week 2018. Ihr Ansatz ist eine Art Gegenoffensive zu vielen nachhaltigen Modelabels: keine langweiligen Basics, die aufgrund ihrer Zeitlosigkeit langes Tra-gen ermöglichen, sondern einzigartige Kleider, die man nicht mehr hergeben, sondern hüten möchte. Diese Unikate haben natürlich ihren Preis, aber aus Sicht der Designer-innen müssten wir ohnehin alle die Quantität unseres Modekonsums reduzieren, statt jede Woche neue Kleidung zu kaufen. Zudem denken sie über einen Rental-Service nach, der die temporäre Nutzung ihrer Kleider ermöglichen könnte.

Auch im Bereich Virtual Fashion ist Rave Review inzwischen aktiv. Unter dem Namen „Cryptopanties“ entwickelten Josephine Bergqvist und Livia Schück eine Serie, die auf handgefertigten Panties beruht und anschließend digitalisiert wurde. Es gibt neun verschiedene Grundtypen, aber jedes Exemplar ist einzigartig – auch im Metaverse bleibt Rave Review also seinem Unikatkonzept treu.
Diese Fashion-Artworks machte das Label seiner Community im Solana Blockchain Network als NFTs (Non-Fungible Tokens) zugänglich. Während die Blockchain Etherum dafür kritisiert wird, dass die erforderliche Rechenleistung gigantisch und deshalb nicht nachhaltig ist, hat Solana einen Mechanismus entwickelt, der eine hocheffiziente, energiesparende Verarbeitung der Transaktionen ermöglicht. Durch Zahlung per SOL-Coins können die Kundinnen ein digitales Zertifikat kaufen, das den Erwerb der digitalen Panties durch den Eintrag auf der Solana Blockchain belegt. Durch diesen Eigentumsnachweis werden die virtuellen Objekte zu fälschungssicheren Sammlerstücken – Crypto Collectables.
Die beiden Rave Review-Gründerinnen haben das Potenzial digitaler Mode längst er-kannt. Die Branche wandelt sich bekanntlich rasant: Computergenerierte Models präsen-tieren digitale Versionen realer Kollektionen oder auch Kleider, die in echt gar nicht mehr existieren. Stilbewusste Gamer kaufen virtuelle Luxus-Kleider von Marken wie Louis Vuitton, Gucci oder Burberry für ihre Avatare. Aus Sicht von Rave Review sind digitale Kleidungsstücke ein Weg, die negativen Einflüsse der Fashion-Industrie auf die Umwelt zu reduzieren – indem etwa Energie für die Herstellung der Stoffe gespart und die welt-weiten Transporte reduziert werden. In einem Interview im Online-Magazin der kalifornischen Zeitschrift „Autre“ (www.autre.love) sagten die beiden: „Viele Leute stylen sich heutzutage nur für Instagram – warum sollte man dann nicht einen digitalen Stoff verwenden?“
Wirklich einzigartig ist, wie Josephine Bergqvist und Livia Schück zugleich rückwärts- und vorwärtsgewandt arbeiten: Sie können sich genauso für gebrauchte Gardinen wie für virtuelle Wäsche begeistern. Bei ihren zukünftigen NFT drops wollen sie weiter mit Remakes and Recycling im digitalen Raum experimentieren. Es lohnt sich bestimmt, diese Experimente im Blick zu behalten.


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