Late to the party

Von Verena Roßbacher

Es ist immer ein wenig albern, ein Buch zu empfehlen, das womöglich alle schon mal empfohlen bekommen haben, es hat sich schon bewiesen und ist kein bisschen ein Geheimtipp. Dazu kommt, „Der Apfelbaum“ von Christian Berkel ist ein Buch von einem Schauspieler, und wenn Schauspieler ein Buch schreiben, gehen eh gleich alle in Hab-achtstellung und denken sich, das kann ja nur ein Blödsinn sein. Dennoch würde ich sagen, so man es nicht schon getan hat und nicht allzu viele Vorurteile pflegt gegenüber schreibenden Schauspielern, jetzt, wo es allmählich dunkler wird und wir nicht mehr den lieben langen Tag damit zubringen, sinnlos draußen herumzuspringen und keine Zeit zum Lesen zu haben: Jetzt kann man vielleicht mal den „Apfelbaum“ in die Hand nehmen.
Berkel erzählt die Geschichte seiner Eltern, Sala Nohl und Otto Berkel, die sich 1932 in Berlin kennenlernen. Sala entstammt einer intellektuellen, jüdischen Familie, ihr Vater war einer der frühen Bewohner des Monte Verita – einer Reformbewegung im Tessin –, und geht mit seiner Homosexualität sehr offen um. Ihre Mutter verließ die Familie, als die Tochter vier war und engagierte sich in der spanischen anarchistischen Bewegung, ihre Tante in Paris arbeitet für Hermès, eine weitere Tante lebt in Buenos Aires – eine kosmopolitische, schillernde und originelle Familie. Otto wiederum wächst als Sohn einer Arbeiterfamilie im dritten Hinterhof in Berlin Kreuzberg auf, seine Schwester und sein Schwager sind frühe Anhänger der Nationalsozialisten, sein Stiefvater ist ein schwerer Trinker, Gewalt und Armut gehören zum Alltag.
Die beiden lernen sich bei einem Einbruch kennen als sie dreizehn und er siebzehn ist – und der Einbruch wird verübt von einer Bande Kleinkrimineller, der Otto inzwischen angehört – und zwar im Elternhaus von Sala. Die beiden kommen in den Dreißigerjahren als Paar zusammen – und treffen sich dann erst in den Fünfzigerjahren wieder, nachdem Sala 1938 nach Frankreich geflohen ist, in einem Lager in den Pyrenäen interniert wird, dann in Leipzig untertaucht und so Auschwitz entgeht und später nach Buenos Aires auswandert. Er wird zwischenzeitlich Arzt und als solcher dann fürs Rote Kreuz in den Krieg eingezogen, gerät in russische Kriegsgefangenschaft und kehrt erst 1950 nach Berlin zurück.
Berkel lässt dieses Epos beginnen mit den Gesprächen, die sein Ich-Erzähler und Alter Ego mit seiner demenzkranken Mutter führt. Manches erinnert sie sehr genau, anderes bleibt vage und wird von ihm in Archiven und auf Reisen recherchiert, und so erzählt er geschickt diese Familiengeschichte, die zu weiten Teilen autobiografisch ist, und die über drei Generationen hinweg so viel enthält, was dieses Jahrhundert ausgemacht hat – die Ideale und Fanatismen, den Krieg und die Flucht, die große Historie und die kleinen Versuche, in ihr nicht unterzugehen.
Es gibt gewiss viele Bücher, die versuchen, dieses viel zu große Kapitel deutscher Geschichte zu erzählen – das hier ist ein weiteres Puzzlestück, das dazugehört, um ein bisschen mehr zu verstehen über die Geschehnisse, die so gewaltig waren, dass sie uns bis heute beschäftigen – und auch noch lange beschäftigen werden. 


Christian Berkel
Der Apfelbaum
Roman
416 Seiten
ISBN: 978-3-548-06086-6
Ullstein Taschenbuch, 2019


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