Licht und Dunkelheit

Beirut – Kapitel Without Light. Foto: © Laurian Ghinitoiu
Die Architektin Lina Ghotmeh widmet sich in ihrem Buch „Windows of Light“ der ungleichen Verteilung von Licht und deren gesellschaftlichen Auswirkungen. Mit einem fotografischen Essay macht sie die Stromkrise in Beirut sichtbar und zeigt, wie Licht und Dunkelheit soziale Strukturen prägen. Doch ihre Forschung geht weit über die Beleuchtung von Räumen hinaus.
Licht als gestaltendes Element der Architektur
Für Lina Ghotmeh sind Licht und Dunkelheit zentrale Elemente der Wahrnehmung. In ihrer architektonischen Praxis nutzt sie sie nicht nur zur Beleuchtung oder Schattensetzung, sondern um Atmosphären zu schaffen, die Emotionen, Geschichten und menschliche Präsenz vermitteln.
„Es geht darum, eine Erfahrung zu inszenieren, bei der Räume durch Licht und dessen Abwesenheit lebendig werden“, erklärt sie. So wie ein Archäologe materielle Zeugnisse der Geschichte freilegt, analysiert Ghotmeh die Historie eines Ortes und setzt Licht als Verbindungselement ein. Ihr Buch „Windows of Light“ untersucht, wie verschiedene Kulturen Licht und Dunkelheit erleben und wie sich Städte im Lauf der Zeit um diese Elemente strukturiert haben. Besonders die Einführung von Elektrizität veränderte das soziale Gefüge: Beleuchtete Räume wurden zum Zeichen des Fortschritts und der Macht, während Dunkelheit häufig mit Marginalisierung einherging.
Architektur als archäologische Spurensuche
Bevor sich Ghotmeh der Architektur zuwandte, faszinierte sie die Archäologie – ein Interesse, das sich bis heute in ihrer Arbeit widerspiegelt. „In vielerlei Hinsicht haben Archäologie und Architektur eine ähnliche Methodik: Bei beiden geht es um eine Ausgrabung, sei es physisch oder konzeptionell, um eine Bedeutung aufzudecken und darauf aufzubauen.“ Sie betrachtet Licht als historisches Element, das tief in Mythologie, Kosmos und menschlichen Innovationen verwurzelt ist.
Dieser Ansatz zeigt sich besonders in ihrem Projekt „Stone Garden“ in Beirut. „Beirut ist eine Stadt der Kontraste – Schönheit und Zerstörung, Erinnerung und Vergessen. ‚Stone Garden‘ war für mich nicht nur eine architektonische Herausforderung, sondern auch eine emotionale Reise.“ Die Fenster des Gebäudes sind wie eine fotografische Linse, die die Geschichte der Stadt einfängt. Die Explosion von 2020 traf das Projekt sowohl physisch als auch symbolisch. Doch es überstand die Zerstörung und wurde zu einem Symbol für Erinnerung und Wiederaufbau.

Stone Garden in Beirut. Foto: © Lina Ghotmeh
Licht und Nachhaltigkeit – Ein neues Bewusstsein für die gebaute Umwelt
Künstliches Licht dominiert zunehmend die urbane Umwelt – oft auf Kosten von Ökosystemen und Kulturlandschaften. Ghotmeh sieht es als Notwendigkeit, mit Licht bewusster umzugehen: „Wir müssen erkennen, dass Dunkelheit genauso wertvoll ist wie Licht. Durch die Reduzierung von Lichtverschmutzung können wir den städtischen Raum wieder stärker mit der natürlichen Welt verbinden.“ Ihre Vision ist eine Architektur, die verstärkt mit natürlichem Licht arbeitet und künstliche Beleuchtung auf das Nötigste beschränkt.

Beirut – Kapitel Without Light. Thematisiert wird u. a. die Energiegerechtigkeit am Fallbeispiel Beirut – der Geburtsstadt Lina Ghotmehs –, veranschaulicht durch einen fotografischen Essay. Aufgezeigt werden Regionen, in denen der Zugang zu künstlichem Licht eher ein Privileg als ein Recht ist.
Foto: © Laurian Ghinitoiu
Doch der Zugang zu Licht ist nicht nur eine Frage der Nachhaltigkeit, sondern auch eine soziale Herausforderung. „In vielen Städten sind diejenigen, die keinen verlässlichen Zugang zu Strom haben, oft ohnehin schon marginalisiert. Architektur kann hier eine Rolle spielen, indem sie Gebäude schafft, die nicht nur Ressourcen verbrauchen, sondern aktiv zur Energieverteilung beitragen.“

Beirut – Kapitel Without Light. Foto: © Laurian Ghinitoiu
Zeichnen als Forschungstool
Für Ghotmeh ist Zeichnen ein wesentliches Element ihrer Forschung. „Es ist mehr als ein technisches Werkzeug – es ist eine Ausdrucksform, die mir hilft, Ideen in ihrer reinsten Form zu erkunden.“ In „Windows of Light“ finden sich Tuschezeichnungen, die ihre Reflexionen über Licht, Wasser und die natürliche Welt einfangen. „Die Unmittelbarkeit der Tusche, mit ihren rohen, ungefilterten Strichen, spiegelt die flüchtige Natur des Lichts wider.“
Licht als Impulsgeber für neue Perspektiven
Lina Ghotmehs Arbeit zeigt, dass Licht weit mehr ist als ein funktionales Element der Architektur. Ihre Forschung und Praxis regen dazu an, Licht nicht nur als physikalisches Phänomen zu betrachten, sondern als zentrales Element des städtischen, kulturellen und ökologischen Gefüges. Mit „Windows of Light“ öffnet sie eine neue Perspektive auf Licht – als Medium des Wandels, der Reflexion und der sozialen Verantwortung.

Lina Ghotmeh (geb.1980 in Beirut, Libanon) ist eine libanesisch-französische Architektin, die das Pariser Architekturbüro „Lina Ghotmeh – Architecture“ leitet. 2021 stellte sie ein Modell ihres Beiruter Projekts „Stone Garden“ auf der Architekturbiennale Venedig aus.
zusammengestellte unvollendete Forschung untersucht Symbole, Mythen, Innovationen und wie Licht unsere biologische, astronomische und architektonische Umwelt grundlegend prägt. Während offizielle historische Aufzeichnungen oft weniger dominante oder nicht-westliche Kulturen an den Rand gedrängt haben, bemüht sich „Windows of Light“ darum, die verschiedenen Wissensbestände durch die Hervorhebung gemeinsamer Ideen zu fördern, um eine Basis für neue Perspektiven zu schaffen. Dabei zeigt sich, dass Ähnlichkeiten und nahezu identische Symbole im Abstand von Jahrhunderten an den unterschiedlichsten Orten der Erde auftauchen. Dieser generationenübergreifende Austausch von Inspirationen trägt dazu bei, eine abwechslungsreiche Geschichte des Lichts von vor 4,6 Milliarden Jahren bis heute zu erzählen.“

Lina Ghotmeh
Windows of Light
hgg. in Zusammenarbeit mit
Zumtobel Group
288 S., Lars Müller Publishers
ISBN 978-3-03778-776-2, 2024
Textquelle: Interview Zumtobel Group mit Lina Ghotmeh