Luv und Leben
Rettungssituation im zentralen Mittelmeer. Ein Boot in Seenot sinkt und Menschen fallen ins Wasser. Rettungsboote der Sea-Watch 3 versuchen die Menschen mithilfe von Centifloats zu retten. Das sind aufgeblasene Schläuche, an denen sich Menschen im Wasser festhalten können. Das Bild wurde vom Aufklärungsflugzeug Seabird aufgenommen.
Foto Jens Scheibe / Sea-Watch
Die Bedingungen für die zivile Seenotrettung werden rechtlich verschärft, der Gegenwind aus Politik und Gesellschaft wird rauer. Unbeirrt leisten zivile Seenotretter einen zentralen Beitrag für die Menschenrechte.
Von Sarah Kleiner
Es sind Ereignisse, die man kurz vor der Urlaubssaison gerne verdrängt. Im März dieses Jahres treiben etwa 50 Personen mehr als 30 Stunden lang in einem defekten Holzboot im Mittelmeer. Zivile Seenotretter entdecken die Schiffbrüchigen vom Flugzeug aus. Sie informieren die nationalen Seenotleitstellen von Italien, Malta und Lybien, setzen Notrufe per Funk ab, doch niemand greift ein. Ein Handelsschiff kann noch 17 Personen bergen, doch für 30 Menschen kommt die Rettung zu spät.
Es ist nur einer von vielen Vorfällen. Der UNHCR (Hoher Flüchtlingskommisar der Vereinten Nationen) schätzt, dass im vergangenen Jahr etwa 2.000 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Mit Gewissheit beziffern kann man die Anzahl nicht, die Personen gelten offiziell als vermisst. Die Vereinten Nationen rechnen aber mit einer noch höheren Dunkelziffer. Während sich Urlauber an den Mittelmeerstränden räkeln, spielen sich wenige hundert Seemeilen entfernt Dramen ab, die für eine historische Grundsatzentscheidung stehen. Wie geht Europa mit schutzsuchenden Menschen um?
Nationale und europäische Seenotrettungsprogramme wurden in den vergangenen Jahren sukzessive zurückgefahren. An ihre Stelle traten zivile Seenotrettungsaktionen wie Sea-Eye, Sea-Watch, Mission Lifeline oder SOS Mediteranée. Ihr Handeln wird auch kritisch beäugt. Fungieren Seenotretter als Schlepper? Motivieren sie Menschen dazu, sich auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer zu machen? Diesen Fragen steht jedoch die moralische und auch rechtliche Verpflichtung gegenüber, Menschen zu helfen, die in Lebensgefahr sind.
„Im Prinzip weiß ich, dass ich an der richtigen Sache dran bin und dass das etwas ist, was mich mein weiteres Leben begleiten wird”, antwortet Jakob Frühmann auf die Frage, ob er manchmal überlege, in seinen alten Beruf als Pädagoge zurückzukehren. Der 32-jährige Burgenländer ist seit 2018 in der Seenotrettung aktiv, seit einigen Jahren bei der deutschen Organisation Sea-Watch. „Ich sehe aber natürlich auch, dass wir die Probleme im Mittelmeer nicht lösen werden. Wir sind die Feuerwehr, die den Brand löscht, aber die strukturellen Ursachen des Problems haben mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu tun, mit kolonialen Verhältnissen.”
2015 hat sich unter anderem aufgrund des Schließens der berüchtigten Balkanroute die Migrationsroute über das zentrale Mittelmeer wieder aufgetan. Staatliche und europäische Behörden waren überfordert mit der Anzahl der ankommenden Boote, woraufhin sich die ersten zivilen Rettungsflotten gegründet haben; aus dem Grundgedanken heraus, „da einzuspringen, wo der Staat überfordert ist oder versagt“, sagt Frühmann. Heute verfügt Sea-Watch über mehrere Schiffe und zwei Flugzeuge, mit denen der Mittelmeerraum – das Einsatzgebiet – abgesucht wird. Wird ein Notfall gesichtet, so werden Küstenwachen verständigt und um Hilfe gebeten. Von der libyschen Küstenwache, deren Tätigkeiten von der EU mitfinanziert werden, gebe es in der Regel aber keine Rückmeldungen mehr, meint Frühmann. „Vor zwei Monaten habe ich aus einem unserer Flugzeuge sogar beobachtet, wie die sogenannte libysche Küstenwache Schüsse abgefeuert hat, und so Menschenleben gefährdet hat, anstatt eine koordinierte Rettung durchzuführen“, sagt er. Das Vorgehen wurde auf Video aufgenommen und sorgte international für Schlagzeilen.
Juristisch gesehen, sind Kapitäne – auch die von Kreuzfahrtschiffen oder Yachten – nach internationalem Seerecht verpflichtet, unabhängig von Nationalität, Status und den Umständen, in denen sich Hilfesuchende befinden, bei Seenot Hilfe zu leisten. Welches Land für die Koordination der Rettung zuständig ist, hängt von der Seenotrettungszone („Search and Rescue (SAR) Region“) ab, in der der Vorfall stattfindet.
„Die Frage ist, wie weit dehnbar das Verständnis dieser Search and Rescue Missionen ist – wie weit suche ich aktiv nach jenen, die in Seenot geraten. Oder bedeutet es, erst zu reagieren, wenn ein Funkspruch eingeht?“, sagt die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie beschäftigt sich seit 2015 intensiv mit dem Asyl- und Zuwanderungssystem, ihr Buch „Das Fluchtparadox“ wurde kürzlich als eines der Wissenschaftsbücher des Jahres 2023 ausgezeichnet. „Bei der Diskussion über Seenotrettung wird ja automatisch hingenommen, dass das System, in dem sie notwendig wird, einfach so ist“, sagt Kohlenberger.
Ein Junge steht an Bord der Sea-Watch 3 und schaut auf das Meer hinaus. Zum Zeitpunkt des Fotos harrt er seit über zwei Wochen an Bord des Rettungsschiffes aus, da kein europäisches Land zur Aufnahme der insgesamt 32 Geretteten bereit ist. Foto Felix Weiss / Sea-Watch
Dennoch hätten die Missionen einen Effekt, der ethische Fragen aufwerfe. „Das Seenotrettungsdilemma ist auch den Seenotrettern bewusst. Dadurch, dass sie Menschen retten, sind sie ein Baustein in diesem Migrations- und Asylsystem“, sagt sie. Die Argumentation, dass sich Menschen nur auf den gefährlichen Weg übers Mittelmeer machen, weil sie damit rechnen, gerettet zu werden, will die Forscherin nicht stehen lassen. „Es ist ja nicht so, dass diese Menschen völlig naiv wären. Hinter ihrer Entscheidung stehen massive Fluchtgründe, die das Bleiben im Herkunfts- oder Transitland nicht ermöglichen“, sagt sie. „Die Entscheidung, ob ich in einem lebensbedrohenden Umfeld bleibe, oder mich auf die lebensbedrohliche Überfahrt mache, ist eine für europäische Verhältnisse kaum vorstellbare Abwägung von Risiken.“
Nach einer Rettung auf hoher See ist laut internationalen Übereinkommen vorgesehen, dass Schiffbrüchige ehest möglich in den nächsten sicheren Hafen gebracht werden. Für die Seenotretter kommt dafür fast nur noch Italien in Frage, nachdem es in Libyen zu schweren Menschenrechtsverletzungen bei Geflüchteten gekommen ist und Malta kaum noch auf Funksprüche reagiert. Die italienische Regierung erschwert das Anlegen der Rettungsschiffe allerdings per Dekret. Nachdem es früher oft Wochen gedauert hat, bis den Schiffen überhaupt ein Hafen zugeteilt wurde, sind es unter Regierung von Giorgia Meloni nun vor allem Häfen, die sehr weit vom Bergungsort entfernt sind. Am Weg zu diesen dürfen die Schiffe per Gesetz keine weiteren Rettungsmissionen durchführen, wodurch sie wochenlang keine Einsätze fahren können und hohe Ausgaben für den verbrauchten Sprit aufbringen müssen.
„Die Idee hinter unserem Konzept ist, als schnelle Eingreiftruppe zu wirken“, sagt Eva-Maria Deininger von der SARaH Seenotrettung, die auf das Zusammenspiel zwischen großen und kleinen Einsatzschiffen setzt. „Wir haben ein Boot gekauft mit hoher Motorleistung, das vorübergehend zumindest die Menschen eines vollen Schlauchboots aufnehmen kann.“ Das sind etwa einhundert Personen. Eva-Maria Deininger ist ebenfalls seit Jahren als Seenotretterin aktiv, 2020 gründete sie mit anderen schließlich die Seenotrettungsaktion „Search and Rescue for all Humans“, kurz SARaH. Im Gegensatz zu NGOs wie Sea-Watch steht das Projekt noch in den Startlöchern.
„Wenn wir eine Mission fahren, haben wir vor, 14 Tage im Einsatzgebiet zu bleiben, Funksprüche aufzunehmen, die Erstrettung zu übernehmen und die Menschen dann an die großen Schiffe zu übergeben. Sodass im Einsatzgebiet immer jemand vor Ort ist“, sagt Deininger. Über ein Crowdfunding und einige Großspender finanziert das Team die Sanierung einer 40 Jahre alten und 23 Meter langen Yacht. Momentan steht sie im Trockendock einer Werft in Barcelona, im Herbst wird es frühestens zu den ersten Einsätzen kommen – „sofern wir die Finanzierung zusammenbringen“, sagt Deininger. Einerseits stehen noch viele Arbeiten am Schiff an, andererseite könnten durch eine vom deutschen Verkehrsministerium geplante Verschärfung der Schiffsicherheitsverordnung weitere Umbauten und Kosten nötig werden – eine weitere Erschwernis, die insbesondere kleinere Rettungsschiffe betrifft.
„Die Seenotrettung wird notwendig, weil die EU-Migrationspolitik vor allem auf Abschottung, Abschreckung und Auslagerung gesetzt hat“, sagt Judith Kohlenberger, „weil es keine legalen Fluchtmöglichkeiten gibt und die Grenzen, auch die Seegrenzen, so stark fortifiziert sind“. Für die Migrationsforscherin ist das Hauptproblem, dass geltende Asylgesetze vor allem auf europäischer Ebene nicht angewandt werden. „Pushbacks sind bereits illegal, es gibt das Recht auf Schutz, auf das Stellen eines Asylantrags, es gibt verbriefte Menschenrechte, es gibt die Idee eines gemeinsamen europäischen Asylsystems. Es gibt eine EU-Aufnahmerichtlinie, gegen die Griechenland, Ungarn und andere Länder verstoßen – aber nichts passiert“, sagt sie. Außerdem sei es notwendig, „viel stärker über legale Einwanderungsmöglichkeiten zu sprechen, die mit Arbeitsmigration verbunden sind.“ Angesichts von Arbeitskräftemangel und demografischen Entwicklungen wäre das auch aus wirtschaftlicher Perspektive sinnvoll.
Ein Dilemma ergibt sich bei Menschen wie Eva-Maria Deininger, Jakob Frühmann und den vielen anderen Seenotrettern durch die gesetzlichen und politischen Umstände. Sie sind in einem politischen Gezerre ein Spielball. Leben zu retten, ist ein menschliches Gebot, wird aber gesetzlich erschwert und geahndet. Auch der Teil der Bevölkerung, der Zuwanderung als Bedrohung wahrnimmt, wächst. „Oft werde ich gefragt: ist das schlimm vor Ort? Und ohne das romantisieren zu wollen: Es ist herausfordernd, aber was für mich noch herausfordernder ist, ist die Konfrontation mit den politischen Verhältnissen, wenn ich zurück nach Österreich komme“, sagt Jakob Frühmann. Für ihn sei eine „beängstigende Verrohung“ des Diskurses in der Gesellschaft zu bemerken.
Nach innen bestehen für die Seenotretter keine Zweifel daran, dass sie das Richtige tun. Gefragt nach Eindrücken, die sie nicht mehr verlassen werden, antwortet Eva Maria-Deininger: „Beim ersten Schlauchboot, das wir gerettet haben, haben die Menschen, als sie gemerkt haben, dass sie in Sicherheit sind, zu singen begonnen“, sagt sie, „God bless you“. Jakob Frühmann erinnert sich: „Wir haben eine Person von einem Boot geborgen und sie konnte in Italien an Land gehen. Ich habe noch das Bild vor mir, wie sie die Gangway von unserem Schiff hinuntergeht, die Hand auf der Schulter einer Person vom Roten Kreuz. Dieser Mensch war blind und hat sich dennoch auf den Weg übers Mittelmeer gemacht.“ Oft würden Zuwanderer als Opfer und verletzliche Objekte gezeichnet, meint Frühmann, dabei steckten dahinter Personen mit einer enormen Kraft und Stärke. „Und von diesen Bildern gibt‘s einige.“
sea-watch.org, sarah-seenotrettung.org