Mehr als ein großer Teich
Foto Jonathan Gallegos
Die Weltmeere und die marinen Ökosysteme, die sich in ihnen entfalten, befinden sich in einem kritischen Zustand. Abhilfe könnte ein „Blue New Deal“ schaffen, der sozial, ökologisch und wirtschaftlich gedacht wird.
Von Sarah Kleiner
Was man nicht alles mit dem Ozean verbindet: das Meeresrauschen, das den Geist zerfließen lässt; Leichtigkeit; Sand und Salzkristalle auf der Haut; ein Blick ins Endlose. Zahlreiche Österreicherinnen und Österreicher haben sich dieses Bild in der Urlaubssaison wieder aufgefrischt. „Wir wissen im Hinterkopf, dass das Meer diese wirklich wichtigen Funktionen im Ökosystem erfüllt, wie CO2 zu absorbieren, Sauerstoff und Rohstoffe wie Fisch und Öl zu liefern“, sagt Chris Armstrong. „Und wir gehen davon aus, dass der Ozean dies weiterhin tun wird, ohne dass wir uns darüber Sorgen machen müssen.“ Frei nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn.
Chris Armstrong ist Professor für Politische Theorie an der University of Southampton. In seinem Buch „A Blue New Deal – Why We Need a New Politics for the Ocean“ (Yale University Press, 2022) zeigt er in detaillierter Recherche auf, wie bedeutend die Ozeane für das Klima und die Biodiversität sind, aber auch, wie die Zerstörung der marinen Ökosysteme voranschreitet. Was seine Publikation von anderen abhebt, ist sein lösungsorientierter Zugang: Armstrong präsentiert ein Paket an Maßnahmen, den „Blue New Deal“, mit dem der Raubbau an den Weltmeeren eingebremst werden könnte.
„Wenn wir erkennen, dass wir auf die Ökosystemprozesse der Ozeane angewiesen sind, dann spielt es keine Rolle, ob wir in einem Binnenland oder einem Küstenland leben“, sagt Armstrong. „Der Ozean wird für unser Leben von entscheidender Bedeutung sein.“ Anders gesagt: Der Zustand der Weltmeere geht uns alle etwas an. Nicht zuletzt deshalb, weil es das Meer ist, das die Erde überhaupt bewohnbar macht. Die Ozeane regulieren und mäßigen die globale Temperatur. Jeder Schluck Wasser, den wir trinken, hat schon Millionen Mal den Kreislauf zwischen Meer und Himmel durchwandert. Und die Weltmeere absorbieren laut deutschem Umweltbundesamt etwa ein Drittel der vom Menschen erzeugten CO2-Emissionen. Und das bringt uns zum ersten zentralen Problem: Durch die Absorption nimmt der pH-Wert im Wasser ab und die Meere versauern. Das wiederum bedroht gewisse Planktonarten, vorneweg das Phytoplankton, das am Anfang der Nahrungskette steht. Abgesehen davon führen jahrzehntelang ungebremste industrielle Fischereitätigkeiten zum drohenden Aussterben ganzer Meerestierarten. Durch Methoden wie der Grundschleppnetz-Fischerei (engl. „bottom trawling“), bei welcher der Meeresboden mit weitläufigen Netzen quasi abrasiert wird, werden außerdem große Mengen CO2 freigesetzt.
Der Begriff „Blue Economy“ fasst alle wirtschaftlichen Zweige und Tätigkeiten zusammen, die sich in Ozeanen, Meeren und an Küsten abspielen. Bis zum Jahr 2030 könnte sich der Beitrag der Meereswirtschaft zur globalen Wertschöpfung mehr als verdoppeln – auf über drei Billionen US-Dollar pro Jahr. In den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts wurden zum Beispiel fast sieben Zehntel der zentralen Öl- und Gasreserven im Meer entdeckt. Ein Gespenst der Zukunft, das gerade Stellung bezieht, heißt dann noch Tiefseebergbau. In den Meeresböden sind Mangan, Lithium, Kobalt und Nickel gebunden – Stoffe, die auch für die grüne Transformation, für Batterien und Windräder, genutzt werden.
Feuchtgebiete, wie dieses in Costa Rica sind ein natürlicher Hochwasserschutz.
Gesetze des Meeres
Dass die Plünderung der Weltmeere solche Ausmaße angenommen hat, liegt an ihrem historischen Verständnis als Gemeingut, das für alle gleichermaßen nutzbar ist. Dieses wurde quasi als Selbstbedienungsladen nach dem „first come, first served“-Prinzip gehandhabt, wie Armstrong sagt. Was wir dadurch erleben, ist in der Sozialwissenschaft auch als „Tragödie des Allgemeinguts“ bekannt. Da die Ressourcen niemandem und damit allen gehören, werden sie nicht effizient genutzt und schonungslos aufgebraucht.
Die „United Nations Convention on the Law of the Sea“ (UNCLOS), die 1994 in Kraft trat, zementierte das staatliche Hoheitsgebiet über diese marinen Rohstoffe. Jeder Küstenstaat bekam seine eigenen Meeresgebiete zugesprochen, die sogenannten „Ausschließlichen Wirtschaftszonen“ (AWZ). Diese reichen bis zu 200 Seemeilen von der Küste des Staats ins Meer hinaus. „Dadurch sollte es eigentlich nicht zu dieser Tragödie kommen, weil jedes Land darüber bestimmen kann, was in den AWZ passiert. Leider ist es recht ungewöhnlich, dass die Staaten tatsächlich strenge Schutzmaßnahmen ergreifen“, so der Experte. Innerhalb der AWZ könnten die Staaten das Problem der Umweltzerstörung also durch Restriktionen und nachhaltiges Management lösen, aber „der politische Wille ist kaum vorhanden.“
Die Regelung verleiht Küstenstaaten einen geografischen Vorteil und hat bestehende globale Ungleichheiten noch verstärkt. Die fünf größten AWZ gehören den USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und Australien. Sie verfügen zusammen über eine Fläche von gewaltigen 45 Millionen Quadratkilometern im Meer. Absurde Ausmaße zeigt das Abkommen bei Inseln: Die Pitcairn-Inselgruppe, ein britisches Überseegebiet im Südpazifik, beheimatet lediglich ein paar Dutzend Menschen. Doch sie ist umsäumt von 800.000 Quadratkilometern exklusiver Wirtschaftszone.
Die Leidtragenden dieser marinen Wirtschaftspolitik sind die Küstengemeinschaften. Die Kapazitäten diverser Fangflotten der Industrienationen haben enorme Ausmaße angenommen, vor allem küstennahe Gewässer werden im Prinzip leergefischt. Die Hälfte aller Umsätze in der internationalen Fischerei fließt dabei an nur zehn Unternehmen. Für die lokale Bevölkerung, die ihren Lebensunterhalt mit Subsistenz-Fischerei bestreitet, bleibt oft nicht mehr genug, um zu überleben. Dabei ist zu bedenken: Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Meeresnähe. Zwei Drittel der großen Städte liegen an Flussdeltas und -mündungen.
Chris Armstrong arbeitet an der
University of Southampton.
Vielschichtige Lösungen
Was nun der „Blue New Deal“ nach Armstrong umfassen müsste, wäre ein ähnliches Maßnahmenpaket wie bei seinem Namensvetter, dem „Green New Deal“. Die Förderung von nachhaltigen Industrien, die für die lokale Bevölkerung Vorteile bringen; eine umweltverträgliche Ressourcennutzung; gemeinsame Finanzinstrumente der Staatengemeinschaft, die vor allem Entwicklungsländern zugutekommen sollten, um die Küstenregionen zu regenerieren: Armstrong setzt auf unterschiedlichen Ebenen an, denkt ökologisch, sozial und wirtschaftlich. Wie kann ein „Blue New Deal“ bestehenden Ungleichheiten auf internationaler Ebene entgegenwirken? Wie können zukunftsfähige Märkte entstehen, die positive Effekte auf die Umwelt haben?
Die erste Priorität eines Blue New Deal sollte für ihn die Wiederherstellung von meeresnahen Feuchtgebieten sein. Sie bieten einen besseren Schutz vor Sturmschäden als Kais oder Dämme – und vor dem Anstieg des Meeresspiegels. Außerdem sind sie ein Kaleidoskop der Biodiversität. Das zweite Augenmerk sollte auf die Algenkultivierung in Küstennähe gelegt werden. „Wenn wir dort Meeresalgen anbauen, wird die Kraft der Wellen verringert, was angesichts der Sorgen um gefährliche Wetterbedingungen notwendig ist“, erklärt Armstrong. „Der andere große Umweltvorteil, den Algen mit sich bringen, besteht darin, dass sie Kohlenstoff absorbieren.“ Auf der sozialen Seite böte der Algenanbau eine niederschwellige Einkommensmöglichkeit für die lokale Bevölkerung. Zusätzlich bräuchte es mehr Aquakulturen mit Schalentieren und Muscheln, die Kohlenstoff aus dem Wasser entfernen, wenn sie ihre Schalen ausbilden. Als weitere Dringlichkeit nennt Armstrong die Ökologisierung von Häfen durch verstärkte Kreislaufsysteme, Recycling und die Erzeugung von erneuerbaren Energien.
Ein Kernaspekt des neuen Deals ist aber die Forderung, die Profite aus der „Blue Economy“ für ärmere Länder zur Verfügung zu stellen. Armstrong zeichnet das Bild eines Meeres, das als Triebfeder für ein egalitäreres globales Wirtschaftssystem fungieren könnte. Über einen Fonds, in den jene
multinationalen Industrien beziehungsweise Staaten einzahlen, die enorme Profite mit dem marinen Allgemeingut machen, könnten Gelder für die Regeneration von Küstengebieten freigemacht werden.
Bergbau auf Hoher See
Abgesehen von den küstennahen Gegenden und den AWZ, bleiben noch rund zwei Drittel des Meeres, die keinem Staat gehören: die Hohe See. Der Tiefseebergbau hat es auf diese Böden abgesehen. Die Folgen der massiven Eingriffe in die dortigen Ökosysteme könnten fatal sein, und wieder sind es aufgrund der kostspieligen Technologien, die dafür benötigt werden, die wohlhabenden Länder, die sich die Profite sichern. Der kanadische Konzern „The Metals Company“ kündigte im Sommer an, bei der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) erstmals um eine Lizenz für ein marines Bergbauprojekt ansuchen zu wollen. Starten will man 2026.
Hoffnung macht das rund 20 Jahre lang ausgehandelte und 2023 beschlossene „Hochseeabkommen“ der Vereinten Nationen. Einen „Meilenstein für den Schutz der Biodiversität in den Meeren“ nennt es WWF-Meeresexpertin Simone Niedermüller. Das Abkommen schafft einen gesetzlichen Rahmen zur Einrichtung von Meeresschutzgebieten in internationalen Gewässern, in denen Fischerei und andere industrielle Tätigkeiten des Menschen untersagt sind. Bis 2030 sollen durch das Abkommen 30 Prozent der Weltmeere unter Schutz gestellt werden. Rund 90 Nationen haben es bereits unterzeichnet. Nun ist die Frage, wie viele von ihnen und wie schnell sie es ratifizieren, damit es in Kraft treten kann.
Angesichts des kritischen Zustands, in dem sich die Weltmeere befinden, ist es jedenfalls überraschend, dass das Meer in der politischen Debatte eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint. Armstrong geht sogar so weit zu sagen: Ohne „Blue New Deal“ könne es keinen erfolgreichen „Green New Deal“, keine wirklich „grüne“ Transformation der Wirtschaft geben. Dem Meer müsse mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Den Kopf in den Sand stecken kann man nämlich nur im Urlaub.
Chris Armstrong
A Blue New Deal
272 S.,
Yale University Press, ISBN: 978-0300259742, 2023
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