Mehr oder weniger

Plötzlich nicht mehr konsumieren zu können, hat auch Vorteile: Es kostet weniger Beherrschung und spart Geld. Weniger ist also vielleicht nicht unbedingt mehr – aber sicher auch nicht schlecht.
Text und Foto von Babette Karner

Seien wir ehrlich: Vieles, was wir uns zwecks Nachhaltigkeit zwar immer vornehmen – weniger kaufen, weniger konsumieren, weniger fliegen – ist im normalen Leben ob unzähliger „Versuchungen“ oft nur schwer durchzuhalten. Und so waren die sechs Wochen des Corona-Lockdowns für mich auch ein spannendes persönliches Experiment: Denn alles, was freiwillig Kraft kostet und nie richtig funktioniert, ist auf einmal kein Problem mehr, wenn man muss.
Daher gestehe ich: Ich empfand diesen fast schon meditativen Aspekt des „Nichts“, den uns der Lockdown ein paar Wochen lang beschert hat, als äußerst angenehm. Essen machen statt essen gehen. Lesen, basteln, aufräumen, Filme schauen – Ruhe statt „Freizeitstress“. Jeden Tag Dinge, die in und um die eigene Stadt zu Fuß erreichbar sind, mit Muße und Langsamkeit neu entdecken (und ich habe viel entdeckt!). Im kleinen Laden gegenüber einkaufen statt im Großmarkt. Nicht ständig zahllosen „Kauf-mich!“-Versuchungen widerstehen müssen. Ich habe erkannt, dass „Weniger ist mehr“ kein langweiligeres, sondern ein entspannteres Leben bedeuten kann. Seither frage ich mich, ob es Möglichkeiten gibt, diese neu gewonnenen Gewohnheiten und somit die durchaus positiven Effekte des Lockdowns auf Psyche und Konsumverhalten, auf Umwelt und Geldbeutel in unseren vermeintlich „neuen“ Alltag hinüberzuretten. Weniger zu konsumieren ist gut für unseren Planeten, das wissen wir alle. Aber schaffen wir es, dass uns die allgemeine „Hurra, es ist wieder offen“-Welle nicht sofort wieder mitschwemmt? Oder erkennen wir überhaupt erst jetzt, wie tief wir alle im kapitalistischen System feststecken, weil ja nur unser aller endloser Konsum auch unser aller Arbeitsplätze sichert? Doch kann es das wirklich sein? Die Prolongierung eines Systems, von dem wir wissen, dass es uns bald Kopf und Kragen kosten wird, schlicht und einfach um des „allgemeinen Wohlstands“ willen?

Für Anfänger: Tipps für weniger Konsum
Immer wieder eine gute Quelle für Texte, Tipps und Informationen zu einem nachhaltigeren Lebensstil ist die Website utopia.de. Dort bin ich auf meiner Suche nach Inspirationen, die meinen begonnenen Konsumverzicht in den Alltag retten könnten, zuerst gelandet. Unter dem Titel „7 Tipps, die dir dabei helfen, weniger zu konsumieren“ findet sich eine brauchbare, kurze Liste mit praktischen, grundsätzlichen Ratschlägen zum einfach umsetzbaren Verzicht: von „Geh‘ nur einkaufen, wenn Du auch wirklich etwas brauchst“ bis zu „Hab‘ keine Angst, etwas zu verpassen“.
utopia.de/ratgeber/tipps-weniger-konsumieren-kaufen/

Für Fortgeschrittene: Wirtschaft ohne Wachstumszwang?
Ohne Wachstum kein Wohlstand: Mit diesem Mantra sind wohl die meisten von uns aufgewachsen, und der „Wohlstand für alle“ ist es wohl, der uns die an sich untragbaren Folgen unseres Konsums noch am leichtesten ertragen lässt. Wer ein wenig Theorie studieren möchte und mit Ambivalenz kein Problem hat, dem sei das Buch „Der Wachstumszwang“ des Schweizer Ökonomen Matthias Binswanger empfohlen. Fernab üblicher Denkmuster wägt er Fluch und Segen des Wirtschaftswachstums ab: „Das Wachstum hat einen ungeheuren materiellen Wohlstand für die meisten Menschen in vielen Ländern ermöglicht, der auch zu einer drastischen Verbesserung der Lebensbedingungen und der Gesundheit geführt hat. Andererseits besitzt Wachstum ein enormes Zerstörungspotenzial für die natürliche Umwelt und trägt nicht mehr zu weiterem Glück der Menschen in hochentwickelten Ländern bei.“
Mathias Binswanger: „Der Wachstumszwang“, Verlag Wiley-VCH

Für Profis: das „Buy nothing“-Projekt
„Buy Nothing. Give Freely. Share Creatively.“ („Nichts kaufen. Freiwillig geben. Kreativ teilen.“) ist das Motto des „Buy Nothing“-Projekts, das zwei Freundinnen, Rebecca Rockefeller und Liesl Clark, ins Leben gerufen haben und das heute eine weltweite Bewegung mit mehr als einer Million Mitgliedern ist. Weil die idyllischen Strände ihrer kleinen Heimatgemeinde nahe Seattle im US-Bundesstaat Washington von einem nie abreißenden Strom von Plastikmüll verunreinigt wurden, gründeten die beiden 2013 die erste „Buy Nothing“-Facebook-Gruppe. Beim „Buy Nothing“-Projekt geht es darum, das „Haben-wollen“-Modell unserer Konsumwirtschaft beiseite zu legen, um die Fülle der Dinge um uns herum kreativ und gemeinsam zu teilen. Lokale Gruppen bilden Geschenkökonomien, die komplementär und parallel zu lokalen Bargeldökonomien funktionieren: „Unabhängig davon, ob Menschen beitreten, weil sie schnell Dinge loswerden oder einfach nur Geld sparen möchten, indem sie Dinge kostenlos erhalten, haben wir schnell festgestellt, dass unsere Gruppen nicht nur eine weitere kostenlose Recyclingplattform sind“, sagen die Gründerinnen. „Der wahre Reichtum dieser Geschenkwirtschaft ist die Interaktion der beteiligten Personen, die stetig neue Wege finden, um der Community etwas zurückzugeben, die Humor, Freundschaft, Spaß und ja, auch kostenlose Dinge in ihr Leben gebracht hat.“
buynothingproject.org

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