Mein Wunsch

Von Matthias Gruber

Seit mein Sohn den Kindergarten besucht, bringt er fast jede Woche ein Freundebuch mit nach Hause. Wir sitzen dann Seite an Seite am Esstisch, während ich ihm die Fragen vorlese und er mir seine Antworten diktiert. Es sind schöne Momente: Ich habe Freundebücher schon als Kind gemocht. Und jetzt, wo sie mir ein Fenster in die Gedankenwelt meines Sohnes öffnen, mag ich sie noch ein wenig lieber.

Die Probleme beginnen erst, als mein Sohn mich eines Tages bittet, in sein eigenes Freundebuch einzuschreiben. Nicht als sein persönlicher Sekretär und Ghostwriter, sondern als ich selbst. Die ersten Fragen nach Augen- und Haarfarbe meistere ich mühelos. Doch dann beginnt die Grübelei. Lieblingsessen? Wie soll man sich da festlegen! Lieblingstier? Jedes, solange es mir nicht ins Haus kommt! Lieblingsband? Was für eine Frage, ich kann nicht einmal meine bevorzugte Musikrichtung benennen. Am kläglichsten aber versage ich bei der Frage nach meinem größten Wunsch. Dazu fällt mir beim besten Willen nichts ein.

Auf der Suche nach Inspiration blättere ich durch die Antworten der Fünfjährigen und wünsche mir ihre Unvoreingenommenheit. Da wird gewünscht, was das Zeug hält: Hundert Stunden Fernsehen pro Tag, ein Treffen mit den Paw-Patrol-Hunden oder mit einer Rakete zum Mond zu fliegen. Ohne falsche Bescheidenheit picken die Freunde meines Sohnes von einem weiten Himmel an Abenteuern und Träumen den Erstbesten herunter. Im Erwachsenenalter dagegen wird das Wünschen zu einer komplizierten Angelegenheit: Soll es der viel gewünschte Weltfrieden sein? Die Gesundheit, ohne die bekanntlich alles nichts ist? Oder doch ganz egoistisch eine Karriere als gefeierter Autor? Jede dieser Antworten kommt mir falsch vor. Und so bleibt die Frage im Freundebuch eine ganze Weile unausgefüllt.
Die Erleuchtung ereilt mich ein paar Wochen später, als ich in einem Radiointerview gefragt werde, über welche Superkraft ich gerne verfügen möchte. Überstürzt antwortete ich mit einer Lüge. „Ich würde gerne fliegen können“, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfällt, immerhin ist es eine Livesendung. Am Weg nach Hause ärgerte ich mich. Denn tatsächlich gibt es eine Superkraft, die ich gerne hätte. Schon als Jugendlicher habe ich mir gewünscht, ins Innere anderer Menschen blicken zu können. Natürlich nicht als Gedankenleser. Man müsste verrückt sein, sich so etwas zu wünschen. Ich stelle mir diese Superkraft auf kindliche Weise als Fähigkeit vor, in den Lebensgeschichten anderer Menschen zu lesen und zu verstehen, warum sie geworden sind, wer sie sind. Ihre inneren Kämpfe und Ängste zu kennen. Die Wunden, die sie im Laufe des Lebens davongetragen haben, die Hoffnungen, die sich erfüllt oder in Luft aufgelöst haben.

So kam ich durch eine schlecht beantwortete Frage zu einer ehrlichen Antwort für das Buch meines Sohnes: Ich wünsche mir, zu verstehen, was in Menschen vorgeht. Vielleicht, denke ich jetzt, bin ich deshalb Autor geworden. Zugegeben: Ein bisschen hochtrabend klingt das schon. Aber wir sind hier schließlich in der Abteilung „Wünsch dir was“.


Tipp:

7. Mail 2024, 19.30 Uhr, Landestheater, Bregenz: Matthias Gruber, Buchpräsentation
„Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“. Eine Veranstaltung des Franz-Michael-Felder-Archivs


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