Mein Wunsch

Foto Julius Erler

Von Milena Michiko Flašar

Beim Thema Wünschen muss ich an den japanischen Dichter Miyazawa Kenji (1896-1933) denken. Als er sein wohl bekanntestes Gedicht „Ame ni mo makezu“ (zu deutsch: „Selbst dem Regen trotzen“) verfasste, soll er bereits todkrank gewesen sein. Er hatte eine Pleuritis verschleppt und starb wenig später, mit 37 Jahren, an einer akuten Lungenentzündung. Dem Regen konnte er deshalb nur noch im Geiste trotzen, und die vier Wege der Nächstenliebe, die er in dem Gedicht skizzierte – er konnte sie nur noch an besseren Tagen gehen. „Ohne Begierde“ wollte er sein. „Niemals zürnend. Immer friedlich lächelnd.“ Er wollte „keinen Kummer verursachen“. Was sich wie die Auflistung von simplen Lebensweisheiten liest, ist auch eine. Wenn man sich allerdings vor Augen hält, dass derjenige, der sie zu Papier brachte, mit jedem Federstrich um Atem rang, dann hat man es mit nicht mehr und nicht weniger als einem zutiefst anrührenden, weil aus dem Herzen kommenden, poetischen Vermächtnis zu tun.
Miyazawa war ein Anhänger des Nichiren-Buddhismus. Schon in seiner Jugend hatte er sich mit dem Lotos-Sutra beschäftigt, und eine Zeit lang war er sogar durch die Straßen Tokios gezogen, um die in ihm enthaltene Lehre von der allen Menschen innewohnenden Buddha-Natur zu predigen. Später fügte er sich dem Druck seines Elternhauses und schlug die Laufbahn eines Lehrers an einer Landwirtschaftsschule ein, verließ den Posten jedoch bald wieder, um eine Bauernvereinigung zu gründen, die auf den Ideen des achtsamen Umgangs mit der Erde und ihren Ressourcen beruhte. Heute wäre Miyazawa möglicherweise Klimaaktivist. Die Einfachheit, die ihm vorschwebte, die Liebe zum Boden und zu dem, was er hergab, die Ablehnung von Gewalt – vieles an der von ihm gewählten Lebensweise mutet modern an. Als überzeugter Vegetarier vergoss er Tränen der Trauer über das Leid des Tieres, als man ihm zur Stärkung seiner Gesundheit eine Karpfenleber unter das Essen mischte, und obwohl ihm das Mitgefühl, das er dem toten Fisch gegenüber an den Tag legte, sehr wahrscheinlich als eine Dummheit ausgelegt wurde, hörte er nicht auf, sich weiterhin darin zu üben. Er musste – wie es in dem Gedicht heißt – „nicht gelobt werden“.
Das Gedicht mündet in einen Wunsch. So ein Mensch möchte ich werden, schloss Miyazawa. Er, der ahnte, dass es mit ihm zu Ende ging, schwang sich zu dem Bekenntnis auf, ein ewig Werdender, das heißt ein ewig Unfertiger, ein ewig Unzulänglicher sein zu wollen, und statt sein Schicksal zu beklagen, was zweifellos einfacher gewesen wäre, hatte er sich für das schwierigere „und trotzdem“ entschieden. „Und trotzdem“ streckte er sich nach den Möglichkeiten aus, die in ihm waren und die darauf warteten, von ihm ergriffen zu werden.
Wird es mir gegeben sein, dann, wenn es so weit ist, mit einer ebensolchen Klarheit auf das Leben zu schauen und zu begreifen, dass der Tod ihm nichts nimmt? Dass auch er eine Verwirklichung ist? Ich wünsche es mir. 

Milena Michiko Flašar wurde 1980 in St. Pölten geboren. Ihr Vater stammt aus Österreich und ihre Mutter aus Japan, weshalb die japanische Kultur in ihren Werken eine zentrale Rolle spielt. Flašar studierte Germanistik sowie Romanistik in Wien und Berlin. Für ihren Roman „Ich nannte ihn Krawatte”, der auch als Theaterstück am Berliner Maxim Gorki Theater aufgeführt wurde, erhielt sie den Literaturpreis Alpha. Der Roman „Oben Erde, unten Himmel” war 2023 für den Österreichischen Buchpreis nominiert. Milena Michiko Flašar lebt mit ihrer Familie in Wien.


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