Mein Wunsch

Alexandru Bulucz

Es ist seltsam: Ich musste in den zwei Wochen, seitdem die Frage im Raume steht, ob ich denn nicht „(m)einen Wunsch“ für die Leserschaft des „Original Magazins“ aufschreiben könne, oft an Peter Handkes „Lied vom Kindsein“ denken. Eine Liedstrophe lautet: „Als das Kind Kind war,/ wußte es nicht, daß es Kind war,/ alles war ihm beseelt,/ und alle Seelen waren eins.“ Dass ich aus diesen Versen Trauer herauslese, liegt daran, dass Handkes Beschreibung einigen Erlebnissen und Landschaften meiner Kindheit entspricht. Es ist die Trauer der durch die zeitliche und geografische Distanz zur Kindheit zustande gekommenen Feststellung, dass einer glücklich war, aber in seinem Glück noch nichts von seinem Glück wusste. Denn ein Wissen des Glücks entsteht erst an dessen zeitlichen und geografischen Grenzen oder außerhalb dieser Grenzen: in der Reife, im Schmerz späterer Jahre, im Wachstumsschmerz. Ich meine, zusammengenommen, einige Monate, die ich in meiner rumänischen Kindheit der Neunzigerjahre in Kreischquell (rumänisch: Crișcior) bei meiner im Jahr 2016 mit 101 verstorbenen Urgroßmutter verbracht habe. Es ist eine kleine rumänische Gemeinde in der sogenannten Brad-Senke, nördlich des Siebenbürgischen Erzgebirges. Um zum Hof der Urgroßmutter zu gelangen, mussten wir, die Eltern und ich, einen gefährlichen Heuweg befahren oder begehen. Dem Stiefurgroßvater wurde er zum Verhängnis. Ich lebte schon in Deutschland. Er stürzte, wohl sturzbetrunken, vom Heuweg in den tiefen Abhang zum Bach hinunter und verstarb. Ein Holzkreuz erinnert an der Unglücksstelle an ihn. Der Heuweg trennte ein fast autarkes Leben vom Rest der Welt. Wir begingen ihn nur dann zurück, wenn wir Grundbesorgungen machten: Mehl, Maisgrieß, Sonnenblumenöl, Zucker. Holten wir auch Salz? Ich weiß noch, wie ich einmal in einem der umliegenden Berge an einem für Wild ausgestellten Salzstein leckte. Aus Neugier? Aus Wildheit? Ansonsten war alles vorhanden: Fisch aus dem Bach, Wasser aus dem Brunnen, Milch von den Kühen, die wir vor Sonnenaufgang melkten und deren Hirten, die irrten, wir am Tage waren, Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Wir gingen in den Wald getrocknetes Reisig holen und Pilze sammeln, die wir auf der Stahlplatte des Holzofens brieten. Wir sensten, ließen die Sonne ihre Arbeit machen und hievten mit Forken das Heu auf den Heuhaufen. Wir spalteten Holz. Ich sah den Stiefurgroßvater einmal rohe Eier trinken. Blitze und Donner waren Gotteszeichen – und der Aberglaube poetisch groß. Kurz: Diese mir verloren gegangene Welt hatte keinen Zeitbegriff und kannte weder Langeweile noch Wunschdenken. Sie wusste nicht, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Sie war praktisch, sie hinterfragte und überdachte nicht, sie trauerte nicht, sie machte, sie lebte, sie war. Daher: Mein Wunsch ist, nichts zu wünschen – und erst recht nichts, was auf seine Erfüllung wartet. Ich wünsche mich nur über den Heuweg in Urgroßmutters Welt zurück, weil ich weiß, dass es diese Welt nicht mehr gibt.█

Alexandru Bulucz, geboren 1987 im rumänischen Alba Iulia, wo er seine ersten 13 Jahre verbrachte, studierte Germanistik und Komparatistik in Frankfurt am Main. Er ist Lyriker, Herausgeber, Übersetzer und Kritiker. Sein Lyrikdebüt „Aus sein auf uns“ erschien 2016. Für Gedichte aus „was Petersilie über die Seele weiß“ (Schöffling und Co., Frankfurt am Main 2020) erhielt er 2019 den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis. Er lebt in Berlin.

Highlight. Tipp der Redaktion

Auf Einladung des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek liest Alexandru Bulucz am 29. September, 20 Uhr, in der galerie, Kirchstraße 29, in Bregenz aus seinem Gedichtband „was Petersilie von der Seele weiß“ (Schöffling & Co. 2020). Gefördert von der Crespo Foundation im Rahmen der Kampagne #zweiterfruehling des Netzwerks für Literaturhäuser.

Foto Renate von Mangoldt, Schoffling & Co

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