Mein Wunsch
Von Wolfgang Paterno
Telefonläuten. Judith Reichart wünscht sich einen Wunsch. „Mein Wunsch“, so sei die Kolumne im „Original“-Magazin überschrieben. Judith Reichart und Evi Ruescher sind die Herausgeberinnen von
„Original“. Man erfüllt Judiths Wunsch nach einem Text zögerlich, weil einem gerade keiner einfällt. Das Telefonat endet und der Blick fällt auf eines der Notizbücher, die mich ständig begleiten, halb aus Gewohnheit, halb aus Notwendigkeit. Dieses hier hat ein rotes und ein schwarzes Zeichenband, roter Seitenschnitt, viele Dünndruckseiten, tiefschwarzer Einband. Das Notizbuch, denke ich mir, ist doch auch ein Wunschbuch. Ein Sammelsurium kleiner Wünsche und dem großen Wunsch, dereinst nicht dumm zu sterben. Ein Wunschmosaik, das sich nicht notwendig zum fertigen Bild fügen muss, zum Großwunsch. Ich beginne das Buch durchzublättern. Ein Wirrwarr an Aufzeichnungen und Anmerkungen, Bleistift-, Füllfeder- und Kugelschreiberschrift, schnell niedergeschrieben im Kaffeehaus, in der Straßenbahn, auf einer Parkbank, vieles davon nur mehr schwer entzifferbar. Zitate aus Zeitschriften und Zeitungen, Büchern und den Online-Untiefen. Dazu kurze Stenogramme und Splitter aus dem Alltag. Wer weiß, vielleicht verbindet die Sätze im schwarzen Buch der eine große Wunsch nach Welt.
Es sind Trost- und Wunschsätze. „Die lieben Wolken ziehen ungerührt am lieben Himmel vorüber. Es sind nur Zahlen“, notierte ich Mitte März einen Satz des Schriftstellers Thomas Stangl, als Corona die Welt erfasste. André Gide schenkte mir die Sentenz: „Ein gerader Weg führt immer nur ans Ziel.“ Rilke schwärmt im Notizbuch: „Hiersein ist herrlich.“ Darunter ein Zitat von Monika Helfer: „Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden.“ Der Wunsch, auch einmal einen solchen Satz schreiben zu können. Eingestreut Eintragungen ohne Sinn. Rätseln beim Wiederlesen: „Perseiden. Pflichtwünsche?“
Das Kind sagt, hielt ich bereits im Februar fest, es müsse sich immer „gerechtfertigen“. Später notiere ich: „Das Kind schreibt ,Weltverschmutzung‘ auf ein Blatt. Und wie der Stift, blau, kantig, auf dem Holztisch kratzt und klopft.“ Das Kind heißt im zweiten Vornamen wie das Mädchen mit den abstehenden roten Zöpfen. Pippi Langstrumpf schluckte eine Pille, die wie eine Erbse aussah, und wünschte sich, auf ewig Kind zu bleiben. Im Notizbuch der holpergereimte Pippi-Zauber: „Liebe kleine Krummelus. Niemals will ich werden gruß.“ Als der Zeichner Tomi Ungerer starb, stand wahrscheinlich in einem Nachruf der Satz, den ich Anfang Februar vermerkte: „Ich bin halb Max, halb Moritz. Einer spielt dem anderen Streiche.“ Der Wunsch, ebenfalls halb Erwachsener zu sein, halb Kind zu bleiben.
Allerdings, auch das gehört zum Wunschdurcheinander im Notizbuch: Ende nie. „So dacht’ ich“, steht in der Kladde, Worte des Lyrikers Hölderlin, den sich das Unglück vor gut 200 Jahren als Wunschkandidaten auserkoren hatte, irgendwann aus einer Zeitung abgeschrieben: „Nächstens mehr.“
Wolfgang Paterno, geboren 1971 in Vorarlberg, studierte Deutsche Philologie, Geschichte und Publizistik in Wien. Seit 2005 ist er Redakteur des Nachrichtenmagazins profil. Er veröffentlichte Bücher zu historischen und literarischen Themen, zuletzt etwa „Faust und Geist. Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen“ (2018), „Ein Jahrhundert Leben. Hundertjährige erzählen“ (gemeinsam mit Eva Walisch, 2018), „Das erste Mal. Autorinnen und Autoren über ihr erstes Buch“ (2019) und „,So ich noch lebe…‘ Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation“ (2020).