„Mimmos“ Ideen tragen weiter Früchte
Von Karlheinz Pichler
Fast zwei Jahrzehnte lang galt das im süditalienischen Kalabrien gelegene Riace unter Bürgermeister Domenico Lucano als Musterprojekt für den Umgang und die Integration von Flüchtlingen. Bis der fremdenfeindliche Rechtspopulist Matteo Salvini Innenminister wurde und dem allen ein Ende setzte. Er ließ Lucano absetzen und inhaftieren und die meisten Flüchtlinge von Riace in Flüchtlingslager verfrachten. Mittlerweile ist aber der Spuk Salvini wieder vorüber und die Ideen von „Mimmo“, wie Domenico Lucano von Freunden genannt wird, schicken sich an, neue Früchte zu tragen.
Begonnen hat alles 1998, als ein Boot mit kurdischen Flüchtlingen in Riace landete. Riace, das wie viele andere kalabrischen Orte unter einer massiven Landflucht litt, hieß die Gestrandeten willkommen. Es war der Auftakt zur „Città Futura“, der „Stadt der Zukunft“. Domenico Lucano, damals als Chemielehrer tätig, gründete zusammen mit anderen den gleichnamigen Verein mit dem Ziel, Flüchtlinge in Riace anzusiedeln, um diesen eine Perspektive zu bieten und das Dorf wiederzubeleben. In der Folge wurde Lucano 2004 zum Bürgermeister von Riace gewählt. Im Jahr 2010 lebten rund 250 Immigranten in Riace, vier Jahre später waren es bereits 800. Sie stammten unter anderem aus Syrien, Tunesien, Eritrea oder dem Senegal. Als Gegenleistung für Wohnungen und einen moderaten Monatslohn fingen die Flüchtlinge unter der Anleitung von Lucano und Co an, die verlassenen Olivenhaine und Weinberge zu bewirtschaften, Gewerbebetriebe aufzubauen und auch in sozialen Einrichtungen der Altenbetreuung oder im Kindergarten aktiv zu werden.
Für die Art, wie er die Grenzen für Flüchtlinge öffnete und diese in das Gemeinschaftsleben miteinbezog, wurde Lucano 2010 als „World Mayor“ in der weltweiten Rangliste der besten Bürgermeister auf Platz drei gereiht. Und 2016 nahm ihn die renommierte Zeitschrift „Fortune“ in die Liste der 50 einflussreichsten Persönlichkeiten auf. Für seinen Einsatz wurde „Mimmo“ zudem 2017 mit dem Dresdner Friedenspreis ausgezeichnet. Der deutsche Regisseur Wim Wenders wiederum war von der Arbeit Lucanos derart angetan, dass er mit „Il Volo“ einen Dokumentarfilm über ihn drehte.
Im Mai 2019 schaffte es Domenico Lucano erneut auf die Titelseiten einiger Zeitungen. Diesmal allerdings unter negativem Vorzeichen, weil er bei den Bürgermeisterwahlen nur 24 von insgesamt 1500 Wählerstimmen erhielt. Ein Grund dafür war, dass die Bevölkerung gern diejenige Partei wählt, die gerade in der Regierung sitzt, denn sie ist für die Gelder aus Rom zuständig, und das war in diesem Fall die Koalition der beiden populistischen Parteien Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord.
Aber das Dilemma für Lucano begann bereits ein Jahr früher mit dem Start des Kabinetts von Ministerpräsident Giuseppe Conte und mit dem Amtsantritt von Matteo Salvini als Innenminister. Zwar wurde Lucano schon von der sozialdemokratischen Vorgängerregierung unter Matteo Renzi immer wieder drangsaliert, aber Salvini startete eine regelrechte Hexenjagd gegen „Mimmo“ und bekämpfte den aufmüpfigen Bürgermeister wie ein römischer Imperator die Gallier bei Asterix und Obelix. Lucano wurde seines Amtes enthoben, wegen Amtsmissbrauchs anklagt und von einem Provinzgericht unter Hausarrest gestellt. Zusätzlich verhängte Salvini noch einen Bannstrahl gegen ihn und verbot Lucano das Betreten des von ihm selbst regierten Ortes. Damit war das Riace-Projekt vorerst gescheitert. Unter dem Rechtspopulisten und Einwanderungsgegner der Lega Nord durften bekanntlich keine Schiffe von Hilfsorganisationen mehr in italienischen Häfen anlegen, Asylwerber sollten in größeren Flüchtlingszentren untergebracht werden und im Oktober 2018 ließ Salvini mehrere Hundert Migranten aus Riace entfernen und in Flüchtlingsunterkünfte umsiedeln.
Mittlerweile wurde Salvini selbst in die Wüste geschickt und die Hauptanklagepunkte gegen den Ex-Bürgermeister von Riace wurden vergangenen Sommer gänzlich abgewiesen. Dennoch war der politische Schaden groß und Riace wäre beinahe wieder am Nullpunkt angekommen. Aber eben nur beinahe. Denn Lucano hegt neue Hoffnungen und überlegt trotz der vielen Rückschläge, die ihm von der Politik zugefügt wurden, bei der nächsten Bürgermeisterwahl wieder anzutreten. Und zwar gegen den jetzt noch amtierenden Bürgermeister der Lega Nord. „Die Leute wollen mich wählen“, sagt Lucano. Und „Mimmo“ ist der Überzeugung, dass Riace weiterleben muss. Das denken auch zahlreiche junge Italiener, die „Mimmo“ Lucano während des laufenden Gerichtsverfahrens in Schulen, Universitäten, Buchläden und Kulturzentren eingeladen haben, um über das Dorf, die Migration und die Utopie einer besseren Welt zu referieren und zu diskutieren.
Auch von der Forschung, die die Zukunftsperspektiven des italienischen Südens analysiert, erhält Riace tatkräftigen Zuspruch. Denn in kaum einer anderen Region Europas sind so viele Jugendliche arbeitslos wie hier. Mehr als die Hälfte findet keinen Job. Viele von ihnen, vor allem die besser Ausgebildeten, verlassen ihre Heimat und ziehen in den hoch industrialisierten Norden Italiens oder gleich ins Ausland. Zurück bleiben vor allem die Alten, oft in leeren Dörfern, ohne ausreichende Sozial- und Gesundheitsstrukturen. Düster sind die Perspektiven vor allem für Bergdörfer wie eben Riace. Die Küstenorte können immerhin vom Badetourismus leben.
Nach Ansicht von Mario Ricca, einem Experten für interkulturelle Entwicklung, der an der Universität in Rom unterrichtet, stellt Riace „einen Weg in die Zukunft“ dar. Zum ersten Mal habe Immigration in einer armen und in weiten Teilen von der Mafia kontrollierten Gegend die Funktion eines Antriebsmotors für Erneuerung. Eine fast ausgestorbene, traditionelle Lebensgemeinschaft werde wiederbelebt und mithilfe der Migration an heutige Verhältnisse herangeführt. „In diesem Fall ist die Wiedergeburt einer verarmten Gegend der Motor eines Migrationsprojekts“, betonte der Experte kürzlich in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau.
Im Moment leben nur noch an die 100 Flüchtlinge in Riace. Aber „Mimmo“ Lucano ist davon überzeugt, dass es weiter geht. Es sei jetzt wichtig, dass es wieder mehr Leben im Dorf gebe und dass die von ihm und den Flüchtlingen eingerichteten Werkstätten und der Lebensmittelladen funktionieren. Das politische Klima habe sich wieder geändert und „Mimmos“ Früchte sind längst auch im Umland erblüht. Orte wie Camini, Monasterace, Gioiosa Ionica und Caulonia setzen mittlerweile ebenfalls auf das Fallbeispiel Riace. Dass so ein Modell auch in Covid-19-Zeiten funktionieren kann, bewies zum Beispiel Camini. Während des Lockdowns produzierte hier die Näherei der Immigranten rare und begehrte Gesichtsmasken am Laufmeter.
Leccebilità
Ist die Flüchtlingspolitik des vereinten Europas in Anbetracht der Lage der auf den griechischen Inseln unter katastrophalsten
Bedingungen zusammengepferchten Menschen gesamthaft nichts als eine einzige große Schande, so darf man Projekte wie das in Riace doch als wichtige paradigmatische Leuchttürme betrachten. Und dass man auch in kleinerem Rahmen große Dinge leisten kann, das beweist ein weiteres Unterfangen in der Stiefelregion. Im apulischen Lecce, das im südlichsten Zipfel des italienischen Absatzes gelegen ist und das aufgrund des großen Zustroms aus Afrika auch „Little Africa“ genannt wird, hat der aus Bregenz stammende Künstler tOmi Scheiderbauer das Projekt „Leccebilità“ realisiert. Scheiderbauer, der sich selbst als „K.O.G.“ (Künstler Ohne Grenzen) bezeichnet und Projekte im Geflüchteten-Kontext entwickelt, hat unter diesem Titel einen alternativen Stadtplan auf die Beine gestellt. „Ich fragte mich, welches gute, sinnvolle und schöne Produkt ich für die Kollegen im Straßenverkauf entwickeln könnte, so dass sich in ihrem meist sehr prekären Sortiment aus Feuerzeugen, Talismanen und Armbändchen auch etwas Wertvolles finden ließe, dass sich besser verkauft“, sagt Scheiderbauer. So sei im Austausch mit anderen Migranten und afrikanischen Freunden die Idee zu „Leccebilità“ entstanden. Diese Stadtkarte von Lecce wurde mit den und für die zwei größten Besuchergruppen, die es dort gibt, nämlich Touristen und Geflüchteten, in Workshops konzipiert und gestaltet. Wobei das Alternative dieser Stadtkarte beide Gruppen gleichermaßen bedienen soll. „Alles Experimentelle, Kulturell-Spezielle, Subkulturelle, Nachhaltig-Gesunde und Frische ist primär für die Touristen gedacht. Alles Solidarische, Karitative, Aktivistische und Rechtliche primär für die Geflüchteten“, sagt tOmi Scheiderbauer. Vertrieben werden dürfen die Karten aber nur von den Flüchtlingen. Wobei aufgrund der Corona-Krise derzeit die wichtigste Abnehmergruppe, eben die Touristen, großteils fehlt. Aber auch dies sollte sich ja bald wieder ändern.