Mit den Waffen des Rechts
Foto: Lottie Cunningham Wren. Treffen mit den Gemeinden in Nicaragua. Foto Right Livelihood Foundation
Lottie Cunningham Wren ringt seit Jahrzehnten mit dem Staat Nicaragua um die Rechte indigener Völker.
Von Mirela Jašić
„Für ihren unermüdlichen Einsatz für den Schutz des indigenen Landes und der indigenen Gemeinschaften vor Ausbeutung und Plünderung“, so die Jury-Begründung, erhielt die nicaraguanische Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin Lottie Cunningham Wren im Herbst 2020 den Right Livelihood Award, den sogenannten „Alternativen Nobelpreis“.
Unermüdlich ist Cunningham in der Tat, denn die 61-jährige Aktivistin kämpft in Nicaragua entgegen aller Widrigkeiten seit über 20 Jahren für die Rechte indigener Menschen auf ihr Land und ihre Ressourcen. Trotz wiederkehrender Drohungen, auch Morddrohungen, und Einschüchterungen setzt sie sich für den Schutz und gegen die Ausbeutung indigener Gemeinschaften ein. Ursprünglich zur Krankenpflegerin ausgebildet, entschied Cunningham sich später für das Studium der Rechtswissenschaften an der Zentralamerikanischen Universität in Nicaraguas Hauptstadt Managua, um mit ihrer Stimme ihr Volk zu unterstützen.
In der demographischen Struktur Nicaraguas spiegelt sich im Wesentlichen die koloniale Geschichte des Landes wider. Die meisten Menschen in Nicaragua sind Nachfahren von Europäerinnen und Europäern und der indigenen Bevölkerung. Etwa neun Prozent der Bevölkerung sind afrikanischer Herkunft und nur noch fünf Prozent sind indigene Völker, die schon lang vor der Kolonialisierung auf dem heutigen Gebiet Nicaraguas lebten. Die Diskriminierungsgeschichte indigener Völker in Lateinamerika geht weit zurück und zeigt bis heute ihre Spuren in allen Bereichen des Lebens. Die Versklavung durch die Spanische Krone und das damit einhergehende Verbot indigener Sprachen sowie der Ausübung ihrer Religionen und Traditionen haben zum Identitätsverlust vieler indigener Völker in der Pazifikregion Nicaraguas geführt. Nachdem der Osten der Halbinsel aber unter dem Einfluss der Briten stand, konnten die an der Atlantikküste lebenden Miskito, Mayangna und Rama bis heute ihre kulturelle Identität weitgehend bewahren.
Die dort ansässige indigene und afroamerikanische Bevölkerung lebt heute in bitterer Armut und muss um ihr angestammtes Land fürchten, denn die Lebensgrundlagen dieser Menschen werden seit vielen Jahren durch Landgrabbing bedroht. Die nicaraguanischen Behörden erteilen Konzessionen an internationale Konzerne, die das an natürlichen Ressourcen reiche Land ohne Rücksicht auf die ansässige Bevölkerung, ihre Kultur und Lebensweise, insbesondere für Bergbau, Forstwirtschaft und extensive Viehzucht nutzen. Die Erträge werden in der Regel aus dem Herkunftsland in die Indus-trieländer exportiert und das Land, dessen Gebiet und Substanz genutzt wird, so gnadenlos ausgebeutet.
Nach der Nicaraguanischen Revolution im Jahr 1977 kam es zum Umsturz des diktatorischen Regimes und die politisch links orientierten Sandinisten unter Daniel Ortega kamen an die Macht. So wurden zwar breit angelegte Bildungsprogramme umgesetzt, jedoch kam es 1982 unter der Sandinistenregierung auch zu der militärisch begründeten Zwangsumsiedlung von Miskito-Gemeinden ins Landesinnere. Viele von ihnen flohen ins benachbarte Honduras. Bald formierte sich unter der indigenen Bevölkerung gewaltsamer Widerstand gegen die militärischen und bewaffneten Gruppen und so wurde die Atlantikküste Schauplatz eines gewalttätigen Kampfs gegen die Regierung der Frente Sandinista de Liberación National (FSLN).
Der bewaffnete Konflikt zwischen Staat und indigener Bevölkerung an der Atlantikküste fand 1987 im Zuge der neuen Verfassung mit Schaffung der autonomen Regionen RAAN (Región Autónoma de la Costa Caribe Norte) und RAAS (Región Autónoma de la Costa Caribe Sur) ein vorläufiges Ende, doch kommt es heute noch immer wieder zu blutigen Konflikten in Bezug auf die Landrechtsfrage. Die nicaraguanische Verfassung von 1987 gewährte den indigenen Völkern an der Atlantikküste den gesetzlichen Schutz ihres privaten und gemeinschaftlichen Eigentums. Faktisch kam es allerdings nie dazu, da der Staat die Abgrenzung des Landes unterließ und somit die Vergabe von Rechtstiteln zur Durchsetzung dieses Schutzes nicht umsetzte.
Auch die Invasion durch die sogenannten „Colonos“, bewaffnete Siedler aus dem Rest Nicaraguas, macht der indigenen Bevölkerung zu schaffen. Seit den 1990er Jahren besetzen diese illegal die Gebiete der indigenen Völker und roden die Wälder für riesige Weideflächen für Rinder. Etwa 90 Prozent der insgesamt 304 indigenen Siedlungen sind mit massiven Bedrohungen ihres Lebensraums und ihrer Leben seitens der bewaffneten Invasoren konfrontiert. Indigene Menschen werden gekidnappt, getötet und aus ihren Dörfern vertrieben. Cunningham, die selbst immer wieder untertauchen muss, um Sicherheit für sich selbst und ihre Familie zu gewährleisten, spricht in diesem Zusammenhang von der „schlimmsten humanitären Krise des Landes“.
Cunningham selbst ist Miskito und in einem indigenen Dorf mit elf weiteren Enkelkindern bei deren Großmutter aufgewachsen. Von dieser hat sie gelernt, dass sich die Miskito als die Hüter der Wälder und Flüsse verstehen. In den letzten fünf Jahren sind mehr als 20.000 Hektar indigener Landfläche durch Landgrabbing verloren gegangen. Es ist der Lebensraum, in dem sie hausen, jagen, fischen und ihrer traditionellen Medizin nachgehen, der in seinem Mark bedroht wird, aber auch ein Eingriff in das globale Klima, dessen Schutz sich die Aktivistin verschrieben hat.
Einer der größten Erfolge Cunninghams war die Durchsetzung kollektiver Rechte für die indigenen Völker Nicaraguas vor dem Inter-amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Als Sachverständige erstritt Cunningham in Zusammenarbeit mit dem Indian Law Resource Center im August 2001 ein Urteil zugunsten der indigenen Gemeinschaft.
Die Rechtsanwältin setzt sich für die Demarkierung indigener Gebiete, also der offiziellen Anerkennung und rechtlichen Absteckung ihrer Grenzen, ein und hat als Sachverständige in Zusammenarbeit mit dem Law Resource Center der Gemeinde Awas Tingini gegen den Staat Nicaragua vor staatlichen und internationalen Gerichten zu ihren Rechten verholfen.
Das nicaraguanische Umweltministerium hatte einer koreanischen Firma 1996 eine 30-jährige Abholzungskonzession über 62.000 Hektar tropischen Regenwalds bewilligt. Das Gebiet der Gemeinde Awas Tingini war davon unmittelbar betroffen. Die Bewilligung der Konzession wurde seitens der Behörden damit begründet, dass das Ministerium all das Land, das keinen rechtlichen Titel geltend machen konnte, als Staatseigentum betrachte und die indigene Bevölkerung trotz ihres langen Besitzes und ihrer Nutzung keinen Rechtsschutz daraus ableiten könne.
Im ersten Schritt konnte Cunningham erreichen, dass die Vergabe der Konzession vor einem innerstaatlichen Gericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Doch nachdem dies alleine nicht dazu geführt hätte, dass der Staat Nicaragua die notwendige Demarkierung vornimmt und sich die Gemeinde so weiterhin rechtlich ungeschützt sah, wurde der Fall 1998 vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht, wo die Rechtsanwältin ihren größten Erfolg verbuchen konnte. 2001 entschied der Gerichtshof zu Gunsten der Gemeinde und bestätigte so die kollektiven Rechte der indigenen Völker auf ihre traditionellen Siedlungsgebiete und die dortigen natürlichen Ressourcen.
Mit seinem Urteil erkannte der Gerichtshof an, dass der Landbesitz der indigenen Völker für eine Zuerkennung des Eigentums ausreiche und ein gesonderter Rechtstitel nicht notwendig sei. Nicaragua wurde aufgetragen, das Land zu vermessen, die Grundstücksgrenzen festzulegen und entsprechende Eigentumsurkunden zu vergeben. Das zugrundeliegende Verfahren wurde von Cunningham entwickelt und dient indigener Bevölkerung auf der ganzen Welt als Vorbild.
Cunningham gründete 2003 schließlich das Zentrum für Menschenrechte (Centro por la Justicia y Derechos Humanos de la Costa Atlántica de Nicaragua, kurz: CEJUDHCAN), das sich für indigene und afroamerikanische Minderheiten und ihren Schutz vor bewaffneten Siedlern und Konzernen in Nicaragua einsetzt und für Landrechte kämpft sowie Kultur fördert. Die Nichtregierungsorganisation fungiert dabei als gesetzlicher Vertreter von Gemeinden, setzt sich aber auch für die Rechte von Frauen ein und kämpft im ärmsten Gebiet Nicaraguas zudem für Umwelt, Wasser- und Ernährungssicherheit.
Lottie Cunningham Wren teilt sich den „Alternativen Nobelpreis“ mit der iranischen Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotudeh, dem amerikanischen Bürgerrechtsanwalt Bryan Stevenson sowie dem belarussischen Menschenrechtsaktivisten Ales Bialiatski.