Nestroy‘sche Zimmer
Quartierstourismus und Stadtsanierung – Die „grätzlhotels“ in Wien.
Von Robert Fabach
Ja, die Zeit, das is halt der Schneiderg‘sell,
der in der Werkstatt der Ewigkeit alles zum Ändern kriegt.
Manchmal geht die Arbeit g‘schwind, manchmal langsam,
aber fertig wird‘s. G´ändert wird all´s!
Wien, 12. Gemeindebezirk
Die Fotografie steht schon lange im Fenster zum Gasthaus an der Ignazstraße. Tritt man näher, sind drei Männer in der Wirtshaustür zu erkennen. Ausgebleicht, einer mit Schürze, die anderen mit Anzug, altmodisch und eine Geschichte im Kopf beginnt abzulaufen.
Das Gasthaus und die Häuserzeilen um den Meidlinger Markt stehen selbst wie Ansichtskarten um das Geviert aus festen Marktständen und offenen Plätzen für Marktfahrer, Altwarenhändler und Flohmarktverkäufer, die abends wieder alles abgebaut und verschwunden sein werden. Sie zeigen Schaufenster und Eingangsportale, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten angesteckt wurden, manche leer und ungenutzt. Darunter aber auch Portale, die alt, aber aufgeräumt wirken. Sie machen vor allem neugierig mit einer dezenten und ausstellungshaften Beschriftung: 1207 – Die Kinderschuhverkäuferin, 1208 – Die Plattenhändlerin, 0204 – Der Elektriker. Abends kann man Licht erkennen, schwere Vorhänge und Menschen mit Koffern, die sich aufmerksam umschauen, die ankommen oder abreisen. Eine Folienschrift auf der Scheibe mit dem übergroßen Letter „g“ führen schließlich auf die Spur des „grätzlhotels“.
Das „grätzlhotel“
Hinter diesem Begriff steht ein einfallsreiches und zugleich durchdachtes Hotelkonzept, das leerstehende Straßenlokale und deren sperrige Kleinteiligkeit zur Bühne für einen innovativen Stadttourismus verwandelt. Erdgeschossnutzung ist das Thema, Garden- oder Streetlofts sind die Formate. So realisiert an drei Standorten in Wien. Beim Meidlinger Markt, beim Karmelitermarkt und im Karolinenviertel nahe dem Belvedere mit insgesamt 26 Suiten. Praktische Stadtentwicklung und touristisches Experiment in einem. Beworben und gebucht wird über internationale Booking-Plattformen, die Gäste checken online ein und erhalten über einen Schlüsselsafe an der Hausfassade direkten Zutritt zu ihrer Suite. Man bezieht also Quartier mitten in der Stadt.
Garden Suite Meidlinger Markt, Die Bibliothekarin. Gestaltung: BWM Architekten, Foto Severin Wurnig.
Jedes grätzhotel verfügt über Leihräder, die auf unkomplizierte Weise mobil machen.
„Fellows“ statt Frühstücksraum
Keine Empfangshalle, keine Portiersloge, kein Frühstücksraum. Die grätzlhotels bieten dennoch umfassenden Service. Realisiert wird dieser aber nicht selbst, sondern durch die Infrastruktur im direkten Umfeld, dem Grätzl auf gut Wienerisch. Ein Netzwerk von „Fellows“, von Dienstleistern steht dafür zur Verfügung. So etwa das Café Goldegg, ein traditionelles Wiener Kaffeehaus, das Madai, ein schickes Aperitivo-Beisl oder das Marktcafé Ignaz & Rosalia mit der Konditorei Hüftgold.
Sie bieten Lobby und Frühstück in einem, die Trafik nebenan Zigaretten und Zeitungen. Restaurants gibt es jeweils mehrere und überhaupt wird der gesamte Markt zur Mall. Ambiente muss hier nicht mehr dekoriert werden. Der Wiener Schmäh ist gratis – ob man will oder nicht – und den Meidlinger Markt gibt es seit bald 150 Jahren. Im Hintergrund arbeitet ein zentraler Zimmerservice, der die Handtücher bringt, reinigt und die Glühbirnen tauscht.
Gerade in so überreglementierten Planungs-Biotopen wie in Wien hilft gegen bürokratisches Dickicht und den Filz vieler Interessen nur Pioniergeist.
Pioniergeist und sein Beitrag zur Stadtentwicklung
Die Idee entstand aus einem Zusammenschluß von Architekten, Hotel- und Marketingexperten, die Gestaltung für die Standorte Meidlinger Markt und Karmeliter Markt kam von BWM Architekten, für den Standort Belvedere von Büro KLK, die beide in Wien beheimatet – seit vielen Jahren Hotels entwickeln und planen. Der Erfolg beweist einmal mehr, daß Architektur an bestimmten Punkten mehr sein muss als Auftragsgestaltung. Gerade in so überreglementierten Planungs-Biotopen wie in Wien hilft gegen bürokratisches Dickicht und den Filz vieler Interessen nur Pioniergeist. Wir machen das selber. Mit einer Handvoll verbündeter Investoren wurde 2015 grätzhotel begründet, entwickelt, geplant und gebaut. Die „Urbanauts Hospitality“ betreibt seither drei grätzlhotels in Wien. Der Erfolg spricht für sich und weitere Standorte sind geplant.
Diese raffinierte Symbiose nützt erstmal allen. Oben wohnen die Wiener, unten kaufen sie ein und die Leerstände, die aktuelle Konsumgewohnheiten hinterlassen haben, werden auf diese Weise an staunende Hotelgäste vermietet. Jedenfalls ein Beitrag zur Entschleunigung von Gentrifizierungsprozessen.
Individualisierung als Thema schlechthin
Markus Kaplan und Erich Bernard von BWM Architekten sehen im Konzept grätzlhotel nicht nur eine Einzellösung, sondern einen strategischen Beitrag zur Stadtentwicklung, der zugleich einen Trend im Hospitality-Design aufgreift:
„Individualisierung ist das Thema schlechthin. Dazu gehört, dass man aus einem Hotel einen verbindlichen Ort macht.“ Er sieht, dass Funktionalitäten in vielen Bereichen verschwimmen und auch die Gestaltung der Zimmer neuen Parametern folgt: „Es soll nicht mehr so aussehen wie zu Hause, sondern explizit anders. Dabei hat 25hours(Anm.: internationale Hotelkette) einen großen Beitrag geleistet, indem es das Hotel zu einem experimentellen Ort erklärt hat. Hier sind es vermeintliche gestalterische No-Gos, die den Ort interessant machen.“
Eine Nacht auf oder an der Straße
Wie funktionieren eigentlich die „Zimmer“ oder besser Suiten in einem Geschäftslokal, wie schläft es sich eigentlich in der Auslage? Der Bestand hält natürlich Herausforderungen bereit. Die 25 bis 40 Quadratmeter großen Suiten werden entweder ausschließlich von der Straße belichtet oder liegen gänzlich zum Innenhof. Dieses Prinzip verbreitet bei vielen Gästen Begeisterung. Die zentrale Lage im Quartier, der Charme der Altbauten und Raumhöhen bis zu vier Metern haben einfach Potenzial. Für Zufallsgäste ist das gewöhnungsbedürftig und sorgt auch für Irritation, wenn nur fünf Meter vom Bett entfernt, Leben am Gehsteig regiert oder auch mal um 7 Uhr früh die Straße aufgerissen wird. In Konsequenz werden Raumgrenzen aufgehoben, Funktionen durch Podeste oder Zwischengeschosse voneinander abgesetzt und bei Bedarf durch raumhohe Vorhänge separiert. Hochwertige Oberflächen sowie der Einsatz von Vintage-Design-Objekten aus der Umgebung werden über avancierte Farbgebungen verbunden. Die völlig individuellen Zimmer erhalten ihren Zusammenhalt durch konsequentes Grafikdesign. Da ist zum einen das prägnante Buchstabenlogo „g“ und zum anderen eine spürbare Beschriftungsebene, die den Gast dezent durch alle Räumlichkeiten und Einrichtungen begleitet.
Street Suite Karmelitermarkt, Die Lampenschirmmacherin. Gestaltung: BWM Architekten.Foto Heidrun Henke
G‘schicht‘ln
Die Gestaltung nutzt das Anekdotische der Räume und deren Geschichten. Darin schließen „Fellows“ wie das Kaffeehaus Goldegg oder das Marktcafé von Mark und Claudia Ruiz Hellin an, die selbst faszinierende Geschichten einbringen und aus Überzeugung einen sehr persönlichen Umgang mit ihren Gästen pflegen. Das oft einzigartige „Personal“ der klassischen Kaffeehäuser aber auch der Wiener Märkte birgt lebhafte Biografien. Mark Ruiz Hellin hat nach 25 Jahren Werbung und Marketing in Norddeutschland hingeschmissen und in Wien eine Konditorei am Meidlinger Markt eröffnet, Menschen aus allen Ecken der Welt angestellt, um feinste Torten und Kaffee direkt unter die Leute zu bringen. Heute engagiert er sich für das Leben am Markt, der vor wenigen Jahren fast für tot erklärt und abgerissen wurde. Die internationale Mischung aus Marktfahrern, Flohmarkt und unternehmerischem Aussteigertum ergänzt sich mit dem grätzlhotel zu etwas Neuem, zeitgenössisch Wienerischem.
Kind der Zeit
Das grätzlhotel ist ein Kind unserer Zeit und so werden Architektur und Interior mit ihrer symbiotischen Aneignung des Quartiers ergänzt durch ein Netz von Erzählungen. Das grätzhotel hat keine Fassade im eigentlichen Sinn. Seine Fassaden sind vielmehr sozialer und virtueller Natur: Websites, Pressefotos, soziale Netzwerke und ein konsequentes
Management von Public Relations. Dies entspricht unserer zeitgenössischen Wahrnehmung von Stadt und liefert zugleich einen Beitrag zum Wiener Soziotop und seiner Kulturgeschichte. Der „echte Wiener“ war schon immer ein Konstrukt, papierdünn und eine Summe intellektueller Zuschreibungen und Erfindungen. Die Benennung der Suiten nach Berufsständen evoziert im besten Sinne Nestroy‘sche Charaktere. So werden sie zu Nestroy‘schen Zimmern einer ständig neu geschriebenen Stadtgeschichte, die von ihrer Originalität, ihrem Tonfall und einer sarkastischen Hintergründigkeit leben. „Habe d‘Ehre!“
graetzlhotel.com, urbanauts.at, bwm.at,
hueftgold.wien