Neue Exotik
Es gab Zeiten, und die sind noch gar nicht lange vorbei, da galt alles Essbare, das von weither stammte, als Symbol für Status, Wohlstand und Weltgewandtheit. Bereits im alten Rom pflegten reiche Patrizier ihre Gäste mit Erdbeeren im Winter zu beeindrucken, servierten ihnen Straußen-Braten aus Afrika und Austern aus der Bretagne. Und als gut 2.000 Jahre später, so gegen Ende der 1980er Jahre, ein paar weitgereiste Yuppies, wie man sie damals noch nannte, japanische Sushi entdeckten, wurde plötzlich roher Fisch populär, der in unseren Breiten bis dahin noch als Inbegriff des Ekligen galt.
Heute ist das alles anders. Nicht das exotische Lebensmittel verschafft Prestige, sondern jenes, das aus der nahen Umgebung stammt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ernährt sich vor allem die Elite demonstrativ regional. Dem zahlungskräftigen Verbraucher gelüstet es nicht mehr nach Erdbeeren aus Kalifornien, nach Papageifisch von den Malediven oder Hirschfilet aus Neuseeland, sondern nach Sura Kees aus dem Montafon, nach Wild-Saibling aus dem Attersee oder nach der Wiener Radieschen-Sorte mit dem schönen Namen Riese von Aspern. Ein Bedürfnis, das Soziologen damit erklären, dass in einer Welt, in der alles ständig verfügbar und für so gut wie jedermann erschwinglich ist, das Exklusive eben anderswo gesucht werden muss. So schreibt etwa der französische Soziologe Pierre Bourdieu, dass sich eine Klasse niemals über Kaufkraft allein definiere, sondern maßgeblich über kulturelle und ästhetische Abgrenzung.
So gesehen ist es auch kein Wunder, dass im heurigen Juli mit dem Kopenhagener „Geranium“ wieder einmal ein dänisches Restaurant auf der genauso umstrittenen wie einflussreichen „Liste der 50 besten Restaurants der Welt“ den ersten Platz belegte. Bereits in den 2010er Jahren gelang dieses Kunststück einem weiteren Kopenhagener Lokal, nämlich René Redzepis Restaurant „Noma“, und zwar gleich mehrmals und im Vorjahr dann noch einmal. Womit die Stadt Kopenhagen, noch vor 15 Jahren alles andere als ein kulinarisches Mekka, zu einem regelrechten globalen Hot-Spot der „Fine Dining“-Szene aufgestiegen ist.
Möglich machte dieses kleine Wunder die freiwillige Selbstreduktion der dänischen Köche auf lokale Lebensmittel. Sie verzichteten auf Olivenöl und Zitronensaft, zogen stattdessen in die Wälder, an die Küsten und in die Bauernhöfe ihres Landes, um essbare Wildpflanzen, übersehene Meeresfrüchte und vergessene Bauernprodukte aufzuspüren. Und ihren Gästen dieser Art die bisweilen sehr harsche Natur und Umwelt ihrer Heimat gewisserweise auf einem Teller zu servieren.
Neu war das Konzept allerdings nur im Bereich der Spitzenrestaurants. In jenem der einfacheren Restaurants, Gasthäuser, Trattorien und Osterien hatte andernorts schon lange zuvor ein Umdenken eingesetzt, und da vor allem in Italien und dank der Arbeit von der von Carlo Petrini gegründeten Slow Food Bewegung. Bereits gegen Ende der 1980er Jahre setzte man sich für lokale Kleinproduzenten ein, sorgte für Kontakte mit Gastwirten und erhielt Unterstützung von Seiten der lokalen und nationalen Politiker. Letztgenannten ist nämlich nicht entgangen, dass ein lokales Lebensmittel auch als Tourismusmagnet funktionieren kann.
Außerdem gibt die Slow Food Organisation, die inzwischen um die 100.000 Mitglieder in 170 Ländern zählt, seit nun schon mehr als 30 Jahren einen Gasthausführer heraus, der sich „Osterie d’Italia“ nennt, und der eben solche Lokale auflistet, die sich zum einen einer lokalen, traditionellen Küche verschrieben haben, zum anderen mit lokalen Erzeugern arbeiten, und schließlich eine gewisse Preisgrenze nicht überschreiten dürfen. Preisgrenze deshalb, weil diese garantieren soll, dass auch Einheimische und nicht nur gut betuchte Touristen die bewerteten Restaurants besuchen.
Ob alle diese lobenswerten Ansätze auch tatsächlich Auswirkungen auf das Konsumverhalten und die Ernährung der breiten Masse haben, bleibt freilich dahingestellt. Begrüßenswert wäre das natürlich, wenn man bedenkt, dass Lebensmittel aus der Umgebung als frischer und umweltfreundlicher gelten, weil sie weniger weit transportiert werden; im Fall von Obst und Gemüse als gesünder und geschmacksreicher, da sie reifer geerntet wurden; und im Allgemeinen als sozial nachhaltiger, zumal durch ihren Kauf die lokale Wirtschaft gefördert wird.
Allerdings sind da auch noch Lebensmittelindustrie und Großhandel, die beide, wie immer, wenn sich ein Ernährungstrend abzeichnet, auch sofort darauf aufspringen. So ist es inzwischen schon kein leichtes Unterfangen mehr, ein Nahrungsmittel, das tatsächlich in der angegebenen Region erzeugt wurde, von einem solchen zu unterscheiden, das seine regionale Herkunft nur im Namen trägt. Vermutlich gibt es inzwischen überhaupt keinen Begriff mehr in der Lebensmittelindustrie und im Gastgewerbe, der so strapaziert worden ist wie jener der Regionalität. Und stellt sich auch die Frage, ob Fleisch nun wirklich allein schon deswegen besser ist, weil es lokal erzeugt wurde, wie das etwa die großen Fastfood-Ketten uns glauben machen wollen. Ist es das selbst dann noch, wenn es von ausgelaugten Milchkühen stammt, die auch hierzulande unter grausamen Bedingungen gehalten werden? Oder erzeugt eine Tomate tatsächlich weniger CO2, weil sie aus heimischem Anbau kommt – und zwar auch dann, wenn sie bereits im März und in geheizten Glashäusern gezogen wurde? All das darf bezweifelt und muss zumindest relativiert werden.
Wo der Trend hin zum Regionalen jedoch sehr wohl seinen Abdruck hinterlassen hat, ist die Tourismuswirtschaft. Sowohl das Beispiel von Slow Food wie auch jenes der dänischen beziehungsweise skandinavischen Köche wird von Touristikern weltweit beobachtet, analysiert und zu reproduzieren versucht. In der Branche hat man erkannt, dass es wohl keine willkommeneren Touristen gibt als jene, die sich für lokal produzierte Lebensmittel begeistern. In erster Linie natürlich, weil sie die lokale Wirtschaft stützen, dabei auch die Umwelt schonen und nicht zuletzt dabei mithelfen, die kulturelle regionale Identität zu schärfen. All das macht den sogenannten Gastro-Tourismus zum perfekten Gegenpol, nicht nur zum zerstörerischen Massentourismus, sondern auch zu einer Art von Luxustourismus, der wie aus einer anderen Zeit wirkt. Einer Zeit, die noch gar nicht so lange her ist. Und in der man beispielsweise auch während eines Skiurlaubs in einem Hotel in den Alpen nach Hummer, Austern und Erdbeeren im Winter verlangte.