Neue Wilde im alten Bezirk

Von Jürgen Schmücking >>

Eine vitale Community junger Gastronomen sorgt für Bewegung in der kulinarischen Szene Lissabons. Diese „neuen Wilden“ machen die Stadt mehr denn je zu einem Hotspot für genussaffine Gäste aus aller Welt. Vor allem für solche, denen Nachhaltigkeit, Zero Waste oder regenerative Landwirtschaft am Herzen liegen.

In Lissabon ist so viel beim (guten) Alten geblieben, dass man gar nicht darum herum kommt, bei einem Trip in die Stadt auch die guten alten Lokale zu besuchen. Konkret heißt das, dass andere europäische Hauptstädte die Tendenz haben, sich immer ähnlicher zu werden, überall die gleichen „modernen“ Einkaufsstraßen, die gleichen Markengeschäfte – von Ramsch bis exklusiv. Von der Gastronomie ganz zu schweigen.

Wenn man allerdings in Lissabon unterwegs ist, frühmorgens, wenn sich die Sonne zwar schon ankündigt, aber noch nicht wirklich da ist, wenn sich der alte 28er, die legendäre Straßenbahnlinie, die durch den Stadtteil Alfama führt, einen der Hügel hinaufquält, könnte man meinen, die Zeit wäre stehengeblieben. Würden die, die drinsitzen in den alten Tramwagons, nicht allesamt FFP2-Masken tragen, man könnte meinen, man lebte irgendwann in den 1980er oder 1990er Jahren. Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob sich vor diesem Hintergrund eine junge, vitale Szene etablieren kann, die frischen kulinarischen Wind in die Stadt bringt. Um es kurz zu machen: Ja, kann sie. Und das tut sie auch.

Allen voran zwei Heimkehrer, die sich ganz der Nachhaltigkeit und der Zero Waste-Philosophie verschrieben haben. Sie haben bereits an anderer Stelle bewiesen, dass sie kochen können, im Londoner Zero Waste-Restaurant Silo. Es war das letzte internationale Restaurant, das das ORIGINAL Magazin vor den Lockdowns besucht hat. Zwei Jahre später treffen wir zwei altbekannte Gesichter in Portugals Hauptstadt wieder, nunmehr als „neue Wilde“ in ihrem eigenen Lokal.

Gekocht wird eine klare Linie, Zero Waste ist immer noch ein zentrales Thema und die Produkte kommen zum überwiegenden Teil aus dem Meer und den Gärten Portugals

Neues Land
Sehen wir uns diese spannende Neueröffnung und -entdeckung genauer an. George McLeod und Lara Espirito Santo haben mitten in Alfama und direkt an den Tramway-Schienen das Restaurant Sem eröffnet. Der Name bedeutet zweierlei. Einerseits – das Modell kennt man – sind es die Initialen der Familiennamen der beiden. McLeod Espirito Santo, halt rückwärts. Andererseits bedeutet „Sem“ auf Portugiesisch schlicht „ohne“, und das kommt nicht von ungefähr. Das Paar hat vor dem Lockdown an der Seite von Douglas McMaster im Londoner Silo gearbeitet. Das Silo war (und ist es wieder) ein Restaurant, das für nachhaltige Küche und eine kompromisslose Zero-Waste-Philosophie steht. Ursprünglich war geplant, dass der Job in London von längerer Dauer sein sollte. Die plötzliche, pandemiebedingte Schließung des Silo machte den beiden einen Strich durch die Rechnung. Lara ist halb Brasilianerin, halb Portugiesin. Sie ist in Rio geboren, wuchs aber am Land, auf der Farm ihres Vaters auf. Mit einem Hirsch statt einem Kätzchen und eigenem Jagdgewehr. George ist Neuseeländer. Dass die zwei Großbritannien verlassen mussten, war schnell klar. Einen Nachmieter für ihr kleines Appartement in Hackney Wick haben sie via Instagram gesucht. Von den drei Alternativen – Brasilien, Neuseeland, Portugal – fiel die Wahl schließlich auf Portugal, und nach einem Sommer in Comporta konnte man in den darauffolgenden Monaten das Werden des Projekts SEM auf Social Media verfolgen, von den ersten Besuchen bei den späteren Lieferanten, über das Bodenschleifen und Wandausmalen im späteren Restaurant, bis hin zu den ersten Gerichten. Die Eröffnung fand erst vor ein paar Monaten statt, und mittlerweile ist das SEM ausgesprochen gut besucht.

An ihrer Einstellung (und damit auch an der Küchenphilosophie) haben die beiden freilich nichts geändert. Gekocht wird eine klare Linie, Zero Waste ist immer noch ein zentrales Thema und die Produkte kommen zum überwiegenden Teil aus dem Meer und den Gärten Portugals. Zero Waste bedeutet wörtlich übersetzt zwar nur „ohne Abfall“, konkret ist das Konzept aber viel umfangreicher und umfasst Glas- und Tafelkultur aus recycelten Materialien genauso wie renovierte, alte Möbel. In der Küche herrscht radikale Regio- und Saisonalität. Gemüse wird durch Fermentation geschmacklich verändert und haltbar gemacht, beim Fleisch werden vom Tier auch jene Stücke verwertet, die nicht als „Edelteile“ gelten.

Das Menü besteht aus sechs Gängen, wobei der erste, der Auftakt, schon einigermaßen spektakulär ist. Von der Größe her eher ein Gruß aus der Küche, geschmacklich aber einzigartig. Serviert wird er mit einem kalten Sud aus Meerespflanzen. Als erster flüssiger Begleiter zum Gericht steht Eric Bordelets hochgradig mineralischer „Poirée Authentique“ am Tisch. Bei der Weinbegleitung verlässt man kurz den Pfad der regionalen Tugend, das portugiesische Weinangebot wird mit Naturweinen aus der Steiermark, Slowenien und eben dem Birnen Cider aus der Normandie aufgepeppt. Das war auch im Silo schon so und tut dem Abend gut. Ein Gericht, das die Zero-Waste-Philosophie, die die beiden antreibt, auf den Punkt bringt, heißt auf der Kreidetafel schlicht „Cucumber – Angus – Marigold“. Gurke, Angus, Ringelblume. Die Idee dahinter ist, die Proportionen eines klassischen Beef Tartars umzukehren, und damit den Fleischanteil drastisch zu reduzieren. Die Gurke wurde gegrillt, die Ringelblume kam als Emulsion mit eingelegten Blaubeeren und Senfsamen ins Spiel. Die Kuh selbst eine zehnjährige, grasgefütterte Angus-Milchkuh, das Fleisch 40 Tage gereift.
An den fünf Gängen lässt sich auch gut ablesen, was gerade Saison hat. Im konkreten Fall die Quitte. Sie kam in feinste Scheiben geschnitten und gedünstet zum Rochenflügel mit grünen Bohnen und zwei Gänge später noch einmal, diesmal in größeren Schnitten, zum Dessert. Um es auf den Punkt zu bringen: ein Abend im SEM zahlt sich aus. Aber: groß ist das Lokal nicht, rechtzeitige Reservierung fast Pflicht.

Das gilt jetzt mehr denn je. Es ist keine zwei Monate her, da bekamen Lara Espirito Santo und George McLeod nämlich eine ganz besondere Auszeichnung. Die „Mesa Marcada Awards“, DIE kulinarische Rangliste Portugals, hat das junge SEM auf Platz 27 gereiht. Die beste Platzierung für einen Newcomer und damit bester Neu-Einsteiger des Landes. Wir gratulieren! Und freuen uns aufs nächste Mal.


SEM
Mittwoch bis Sonntag, 19:00 – 00:00
Rua das Escolas Gerais 120
Lisboa, 1100-220
hello@restaurantsem.com
restaurantsem.com


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