Neurobiologie der Lieblosigkeit
Wir ignorieren die Signale unseres Körpers und unterdrücken unsere psychoemotionalen Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Autonomie: Lieblosigkeit betrifft uns als Individuen, aber auch als Gesellschaft. Welche Schritte in ein liebevolles Leben führen, verrät der Neurobiologe Gerald Hüther im Interview. Von Alexandra Wimmer
Ihr Sachbuch „Lieblosigkeit macht krank“ ist zugleich ein Plädoyer für einen guten Umgang mit sich selbst. Warum ist ein solcher nicht immer selbstverständlich?
Gerald Hüther: Vielen Menschen ist gar nicht so richtig klar, was es bedeutet, lieblos zu sich selbst zu sein. Ein Beispiel: Ich sitze den ganzen Tag vor dem Rechner, weil eine Deadline ruft, und arbeite weiter, obwohl mein Rücken schmerzt. Geht man jahrelang so mit dem Rücken um, wird ein Arzt später feststellen, dass der Rücken kaputt und abgenutzt ist. Oder: Kardiovaskuläre Erkrankungen betreffen häufig sehr karriereorientierte Menschen, oft Männer. Sie haben viel Stress und strengen sich beruflich sehr an. Das führt zusätzlich zu Anspannungen und Auseinandersetzungen in der Partnerschaft. Andauernder Stress und Beziehungsstörungen können schließlich einen Herzinfarkt verursachen. Der Betreffende müsste bereit werden, nicht länger lieblos mit seinem Herzen umzugehen und die Beziehungsprobleme aufzulösen.
Also krank werden Menschen oft nicht aufgrund von äußeren Faktoren, sondern weil sie Vorstellungen folgen, die nicht mit ihren Bedürfnissen vereinbar sind?
Genau. Wenn der Mensch vor dem Rechner sitzen bleibt, obwohl sein Rücken ruft, hat er die Vorstellung, dass die Arbeit wichtiger ist als sein Körper. Derjenige, der seine Partnerschaft der Karriere wegen vernachlässigt, hat die Vorstellung, der berufliche Erfolg ist das Wichtigste im Leben. Am Ende sind es immer diese Vorstellungen, die dazu führen, dass Menschen nicht nur ihre Grundbedürfnisse und den eigenen Körper verleugnen und vergessen, sondern auch ihre Beziehungen. Sie merken nicht, dass sie eine problematische Partnerschaft führen. Sie merken nicht, dass ihr Körper seine Selbstheilungskräfte verliert. Sie machen immer weiter – und werden am Ende krank.
Viele haben durch die Lieblosigkeit ihres Umfelds schon sehr früh den Draht zu ihren ureigenen Bedürfnissen verloren.
Ja, das kennen viele Menschen. Wir wachsen als Kinder vollkommen offen und mit einer großen Freude am Entdecken in die Welt hinein – und treffen auf erwachsene Bezugspersonen mit deren Vorstellungen, worauf es im Leben ankommt. Auf deren Erwartungen, Belehrungen, Bewertungen und Erziehungsmaßnahmen.
Wenn nun ein kleines Mädchen die elterliche Aufmerksamkeit vor allem dann bekommt, wenn es brav ist oder gute Noten nach Hause bringt, lernt es, sich Zuwendung mit Bravsein oder Leistung zu verdienen.
Es ist eine unglaublich schmerzhafte Erfahrung für ein Kind, von den erwachsenen Bezugspersonen zum Objekt von deren Vorstellungen gemacht zu werden. In diese Problematik geraten Kinder. Das kindliche Gehirn merkt sich aber nicht die Probleme, sondern die Lösungen. Die Lösung heißt dann zum Beispiel: Das Mädchen versucht, eine brave Tochter zu sein und alles so zu machen, wie Papa das möchte. Dazu muss sie ihre eigene Gestaltungs- und Lernfreude unterdrücken – letztlich bleiben die autonome Entwicklung und die Freiheit auf der Strecke.
Was läuft dabei neurobiologisch ab?
Im kindlichen Gehirn, vor allem im Frontalhirn, wo die eigenen Erwartungen mit den konkreten Wahrnehmungen abgeglichen werden, kommt es zu einer gewissen Unruhe. Arousal nennt man diesen Zustand in der Neurobiologie, in dem viele Nervenzellen gleichzeitig zu feuern beginnen und die bisher dort herrschende Ordnung durcheinanderkommt. Die gleichen neuronalen Netzwerke werden auch bei körperlichen Schmerzen aktiviert.
Das erklärt, warum Lieblosigkeit buchstäblich wehtut.
Überwinden lässt sich der damit einhergehende Schmerz am leichtesten, indem die beiden psychoemotionalen Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Autonomie so lange immer wieder unterdrückt werden, bis sie nicht mehr spürbar sind. Weil das Kind die Erwachsenen nicht ändern konnte, hat sich sein Gehirn so lange umgebaut, bis ihm deren lieblose Einstellung und deren liebloses Verhalten nicht mehr wehtun. Jetzt kann all das übernommen werden, was die Erwachsenen für wichtig halten. Im Gehirn werden dabei all jene neuronalen Verknüpfungen verstärkt und zunehmend effektiver ausgebaut, die dazu beitragen, die Aktivierbarkeit jener Nervenzellen zu hemmen und zu unterdrücken, die an der Generierung der beiden Grundbedürfnisse beteiligt sind.
Wie drückt sich elterliche Liebe idealerweise aus?
Es gibt den Ausspruch eines Mönchs aus dem Mittelalter: Liebe ist das unbedingte Interesse am Wachstum des anderen. Liebende Eltern schauen, wohin die Interessen der Kinder gehen, wofür sie Talent und Begabung haben und öffnen ihnen alle Türen dieser Welt, damit sie diese, geleitet von ihren Interessen, entdecken können. Dieses spielerische Erkunden der Welt ist eigentlich die menschliche Form des Lernens.
Hingegen fällt das, was in der Schule stattfindet, in die Kategorie Abrichtung und Dressur. Kinder übernehmen die Leitsätze von Eltern oder Lehrern wie: „Ohne Druck geht es nicht“ oder „Wettbewerb ist notwendig“. Manche versuchen bis zuletzt, die Erwartungen ihrer Eltern, Lehrer oder Vorgesetzten zu erfüllen und nehmen diese Vorstellungen mit ins Grab. Sie sind nie aus den vermeintlichen Lösungen herausgekommen.
Wie kann man Menschen dabei unterstützen, sich aus diesen Verwicklungen zu befreien?
Die Erfahrung, die wir gemacht haben: Ohne die individuelle Entscheidung zur Veränderung geht es nicht. Und wenn jemand schon lange mit einer bestimmten Lösung unterwegs ist, wird diese Person sich nicht freiwillig verändern. Sie braucht eine Vision davon, wie attraktiv ein Leben jenseits des Hamsterrads ist. Man könnte Erfahrungsräume schaffen – eine liebevolle Einladung zum Chorsingen oder eine Wanderung in schöner Natur – und zeigen: Es gibt so viel mehr als Hamsterrad. Die Entscheidung zur Veränderung fällt außerdem leichter, wenn im Umfeld jemand den gleichen Weg gehen will. Auch kann man das eigene liebevolle Sein gegen den Widerstand anderer Menschen, die immer noch im Hamsterrad sitzen, besser durchhalten. Für sie wird man zu einer Gefahr, weil man ihnen ein anderes Leben vorlebt. Deshalb haben wir die Initiative „liebevoll.jetzt“ ins Leben gerufen. Menschen treffen einander in virtuellen Räumen, tauschen sich aus und machen einander Mut.
Die gute Nachricht ist ja: Aufgrund der Plastizität unseres Gehirns ist Veränderung jederzeit möglich.
Richtig. Unser menschliches Gehirn kann sich prinzipiell bis ins hohe Alter umbauen, neue Nervenzellvernetzungen und Kontakte herausbilden. Deshalb sind wir zeitlebens lernfähige Wesen. Am Beginn jeden Umbauprozesses im Gehirn steht der andere Blick auf das, was uns bisher so wichtig erschienen war. Dazu muss es uns ein Bedürfnis sein, unbrauchbar gewordene Vorstellungen loszulassen. Statt mit diesen müssen wir uns wieder mit unserer eigenen Lebendigkeit verbinden, mit unserer Entdeckerfreude und Gestaltungslust, mit unserer Sinnlichkeit und unserem Körperempfinden, mit unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit im Zusammenleben mit anderen.
Auf die eigenen Bedürfnisse und Körpersignale zu hören, ist also nicht nur gesund, sondern macht auch glücklich?
Jedes Mal, wenn uns das gelingt, springen die Belohnungszentren im Mittelhirn an und es werden von den dort liegenden Nervenzellen besondere Botenstoffe freigesetzt. Diese wirken ähnlich wie Dünger auf dem Acker: Sie regen das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen und die Neubildung von Nervenzellkontakten im Gehirn an. Wer solch ein Glücksgefühl häufiger erlebt, dessen Gehirn wird gleichsam besser gedüngt und das neuroplastische Potenzial – die Fähigkeit zur Regeneration und Selbstheilung – kann besser zur Entfaltung kommen.
Leider ist unsere Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft an sich höchst lieblos. Wie kommen wir da heraus?
Menschen müssten aufhören, sich gegenseitig zu Objekten ihrer Absichten, Belehrungen, Bewertungen oder Maßnahmen zu machen. Und einander als Familien, als Nachbarn, als Mitglieder eines Teams als Subjekte begegnen und würdevoll miteinander umgehen. In dem Maß, wie sich diese innere Einstellung auf immer mehr Menschen ausbreitet, wird sich das Zusammenleben in allen Bereichen der Gesellschaft verändern.
Prof. Dr. Gerald Hüther ist Neurobiologe und seit 2015 Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung. Nach dem Biologie- und Forschungsstudium promovierte er an der Universität Leipzig. Die Habilitation folgte an der Medizinischen Fakultät der Universität in Göttingen. Seine wissenschaftlichen Themenfelder: Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, Auswirkungen von Angst und Stress und die Bedeutung emotionaler Reaktionen.
Hüther ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Sachbücher. Neben „Lieblosigkeit macht krank“ sind zuletzt von ihm die Bücher „Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft“ sowie „Wir informieren uns zu Tode – ein Befreiungsversuch für verwickelte Gehirne“ erschienen. akademiefuerpotentialentfaltung.org