Next Nature
Foto Juliette Chrétien
Gesundheit wird zum Leitbild für den Umgang mit Natur. Natur wird in Zukunft zum Synonym für ein gesundes, gutes Leben – und die Umwelt zum zentralen Faktor für physisches, psychisches und soziales Wohlergehen. Von Lena Papasabbas
Willkommen im Anthropozän
Die Natur ist für den Menschen – wie für jedes andere Lebewesen – Lebensgrundlage und Ressource zugleich. Er ist von ihr abhängig und ihren Kräften ausgesetzt, doch gleichzeitig – und hier unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen – formt er sie rasant in seinem Sinne. Spätestens seit dem ersten radioaktiven Niederschlag auf der Erde, beim ersten Atomwaffentest 1945, leben wir in der Epoche des Anthropozäns – das Erdzeitalter des Menschen, dessen Beginn für immer in Kernbohrungen der Erde sichtbar bleiben wird. Der Mensch hat eine Sonderrolle auf dem Planeten eingenommen. Natürlich formen und verändern auch andere Spezies den Planeten. Die Geschwindigkeit und Radikalität jedoch, die der Mensch vorlegt, ist konkurrenzlos.
Der Mensch als Beherrscher der Natur – dieses Bild hat Menschen zunächst berauscht und beflügelt, später immer häufiger beunruhigt. Inzwischen erscheint der Mensch mehr als ihr Zerstörer als ihr Gestalter. Heute sind viele geplagt von einem latent schlechten Gewissen dem Planeten gegenüber. Gleichzeitig ist die ursprüngliche, vom Menschen unberührte Natur wieder im Wert gestiegen. Sie ist zu etwas Wertvollem und Begehrenswerten geworden.
Konsumgut „heile Natur“
Natur ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem regelrechten Sehnsuchtsort geworden – vor allem dort, wo sie nicht ist: in den Megacities, in den Tagträumen unzähliger Büroangestellter, den Instagram-Stories der Reiseblogger und Urlauberinnen. Als Gegenstück zum täglichen Stress verspricht das Sehnsuchtsbild von der „gesunden Natur“ Ursprünglichkeit und Unangetastetheit – eine Idylle, in der der Mensch nur stiller Genießer oder am besten ganz abwesend ist. Diese Naturromantik ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem erfolgreichen Konsumprodukt geworden, das wahlweise Erholung, Unterhaltung oder einen Energieschub verspricht.
Natur ist hier ein idealisiertes Konstrukt des Menschen, eine Wunschvorstellung, die viele Realitäten der Natur ausblendet: Zerstörerische Hurrikans, unkontrollierbare Überschwemmungen, unerbittliche Hitze oder auch nur ein nervtötender Mückenschwarm sind nicht gemeint – lieber Blümchen und Bienchen, stiller Bergsee und atemberaubendes Panorama. Eine handzahme Natur, die den Menschen nicht bedroht oder belästigt.
Gesundheit als Maß aller Dinge
Wenn Menschen von der Rettung der Natur sprechen, dann meinen sie eigentlich ihre eigene. Menschen wollen eine bestimmte Art von Natur um sich haben: Umwelten, die aus menschlichen Errungenschaften bestehen – Städte, Felder, Gärten, aber auch aus Dingen und Lebewesen, die nicht von ihnen geformt wurden, so wie Wälder, Rotkehlchen, Bergpanoramen, das Meer – oder die eigene Hauskatze. Und natürlich eine Natur, die sie mit Lebensmitteln, guter Luft und Energie versorgt und ihnen nicht schadet. Diese Natur zu erhalten beziehungsweise zu erschaffen, ist heute das zentrale Anliegen der Menschen. Erst seit sich die Diskussion rund um den Klimawandel von einer Bedrohung unseres Planeten zu einer Bedrohung des Menschen konkretisiert hat, ist es ernst geworden.
Wo die schädlichen Auswirkungen auf die eigene Gesundheit spürbar werden, steigt die emotionale Involviertheit in das Thema: Die sommerlichen Rekordtemperaturen in Europa haben den Klimawandel konkret spürbar gemacht, das Mikroplastik landet nachweislich nicht nur im Meer, sondern in unseren Körpern, ebenso die Hormone aus Massentierhaltung, der Feinstaub in der Luft. Spätestens die Corona-Pandemie hat die Illusion einer Grenze zwischen der Umwelt „da draußen“ und der eigenen Biologie endgültig aufgelöst. Wir sind die Natur. Unser Umgang mit der Umwelt fällt direkt auf unsere Gesundheit zurück.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Verständnis von menschlicher Gesundheit zunehmend erweitert und schließt immer stärker das psychische Wohlbefinden mit ein. Auch Leistungsdruck, ein stressiger Arbeitsplatz und eine kapitalistisch geprägte Konsumgesellschaft sind Faktoren, die einer gesunden Umwelt entgegenstehen. Gesundheit spielt überall mit – bei der Einrichtung eines Yoga-Raums im Büro, der Durchsetzung von mehr Radwegen, der nationalen Impfkampagne gegen Corona oder bei globalen Richtlinien gegen Hate Speech auf Social Media. Inzwischen definiert auch die WHO Gesundheit nicht nur in ihrer physischen Dimension, sondern auch in der psychischen und sozialen – es geht um nichts anderes als um das ganzheitliche menschliche Wohlbefinden.
Natürlich gesunde Umwelten
Der Mensch hat im letzten Jahrhundert – mit dem Fokus auf die innere Gewinnlogik seines Wirtschaftssystems statt auf seine Gesundheit – lokal an vielen Stellen seine eigenen Lebensbedingungen verschlechtert und schädliche Umwelteinflüsse erzeugt, die allein auf seine Produkte zurückgehen. So zum Beispiel Plastik: Hier werden schon in der Rohstoffgewinnung Schadstoffe freigesetzt, im Material selbst sind hormonell wirksame Substanzen aus Weichmachern nachweisbar und insgesamt gelangen große Mengen Mikroplastik über Luft, Essen und Wasser in den Körper des Menschen. Eine Studie im Auftrag des WWF belegt, dass Menschen im weltweiten Schnitt jede Woche fünf Gramm Mikroplastik aufnehmen. Das entspricht ungefähr einer geschredderten Kreditkarte.
Anschaulich wird das bisherige Nicht-Mitdenken der Gesundheit auch bei den Lebens- und Wohnräumen, die der Mensch sich geschaffen hat – den Städten: Die dort sehr konzentrierte Luftverschmutzung durch Feinstaub, Stickstoffdioxid und bodennahes Ozon nimmt Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System und Atemwege, aber auch auf die Entstehung von Krebs und führt laut der WHO weltweit zu circa vier Millionen vorzeitigen Todesfällen durch schlechte Außenluft. Dazu gesellen sich fast ebenso viele Todesfälle durch belastete Innenraumluft, vor allem in Häusern ärmerer Länder. Auch der Einfluss der Bauweise von Städten auf die Gesundheit ist mittlerweile gut erforscht: Gebäude sind oft sehr funktional gestaltet und können mitunter krank machen: Stress, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Burn-out, Depressionen und Angststörungen sind Gesundheitsprobleme, die nachgewiesenermaßen mit dem Leben in Ballungsräumen und heutigen Arbeits- und Konsumkonzepten zusammenhängen.
Ansätze wie „Healing Architecture“ und „Healthcare Design“ beschäftigen sich mit architektonischen Lösungen, die nicht nur eine funktionale Pflegeumgebung stellen, sondern auch zum psychischen und sozialen Wohlbefinden des Menschen beitragen. Weniger Monotonie, mehr Integration von Tageslicht, Ruheoasen, Rückzugsorte sowie öffentliche Räume, die als sozialer Treffpunkt einladen, sind zentrale Bestandteile. Elemente, von denen ein positiver Einfluss auf das menschliche Wohlbefinden bekannt ist, werden beim Bau integriert – „Biophilic Design“ genannt: Fußböden aus Stein oder Holz erzeugen Gemütlichkeit, Lehmwände sorgen für eine gute Luftqualität. Pflanzen, natürliches Licht, Frischluft und Wasserquellen sprechen alle Sinne an und machen auch aus einem Innenraum einen erfahrungsreichen Wohlfühlraum.
Planetary Human Health
Die genannten Materialien und Qualitäten werden alle mit der „ursprünglichen Natur“ assoziiert. Es geht aber nicht um ein „Zurück zur Natur“ – Technologie ist wichtig und willkommen, um eine möglichst gesunde Umwelt für alle zu gestalten. Wo die menschlichen Sinne den Unterschied zwischen einem Erdbeergeschmack aus der Frucht oder aus dem Labor nicht mehr unterscheiden können, ist die entscheidende Frage nicht, ob der Joghurt möglichst natürlich ist, sondern ob er gesund ist. Und dabei geht es nicht nur um die eigene Gesundheit des Konsumierenden, sondern auch darum, ob Produktionsbedingungen einen negativen oder einen positiven Einfluss auf Produzierende, die Umwelt, das Klima – kurz die Gesundheit des gesamten Systems Erde – haben.
Die Illusion einer Grenze zwischen der Umwelt „da draußen“ und der eigenen Biologie schwindet. Der Fokus liegt dadurch zunehmend darauf, für die Gesundheit günstige strukturelle Lebensbedingungen zu schaffen, die auch die psychosoziale Dimension von Gesundheit mit einschließen – von der Gestaltung von Räumen und Städten über den Einbezug der Dimension des Mikrobiellen bis hin zu Klimawandel und Biodiversität. Denn dadurch, dass alles verbunden ist, kann kein System ohne das andere gesund sein. Und Gesundheit ist eben mehr als nur das System „Biologie“. Kein gesundes „Ich“ ohne eine gesunde Gesellschaft. Keine gesunde Gesellschaft ohne einen gesunden Planeten. Ein gesundes Individuum losgelöst von einer gesunden Umwelt kann es nicht geben. Das Umweltthema wird damit unmittelbar zum Gesundheitsthema. Die Gesundheit des Individuums ist, ganz unesoterisch, direkt verbunden mit der Gesundheit des Planeten.
Lena Papasabbas
ist Kulturanthropologin und befasst sich mit dem Wandel der Gesellschaft, ihren Menschen, Werten und Technologien. Seit 2015 ist sie für das Zukunftsinstitut als Autorin und Forscherin tätig. Ihre Spezialität ist der Zoom-Out: Die tiefer liegenden Verstrickungen gesellschaftlicher und technologischer Großtrends, ihre wechselwirksamen Zusammenhänge und Folgen interessieren die Sozialwissenschaftlerin besonders.
Foto Wolfgang Schmidt