Nicht rasten, nicht rosten

Wer Wert auf nachhaltige Mobilität legt, kommt um das Fahrrad als Fortbewegungsmittel nicht umhin. Wie der Drahtesel noch zukunftsfähiger wird, zeigt das niederländische Start-up „mtrl“ mit seinem nahezu wartungsfreien City-Rad aus recyceltem Plastikmüll. Von Nadine Pinezits

Man kennt es von Wien als auch von anderen Großstädten: rostige, alte Fahrräder vegetieren an Laternenmasten lehnend vor sich hin. Die zurückgelassenen, zweirädrigen Begleiter sind aber nicht nur ein trauriger Anblick, die alten Metallrahmen lassen sich zudem nur schwer recyceln und sind folglich nicht gut für die Natur. Dabei ist das Radfahren selbst bekanntlich sehr umweltfreundlich. Eine aktuelle Studie, in der Menschen aus sieben europäischen Städten über zwei Jahre zu der Nutzung ihrer täglichen Verkehrsmittel befragt wurden, zeigt, dass jene, die täglich Radfahren im Vergleich zu ihren autofahrenden Mitmenschen 84 Prozent niedrigere Verkehrsemissionen haben. So weit, so gut. Nur fällt für die Herstellung, Wartung und Entsorgung herkömmlicher Fahrräder einiges an CO2 an. Das macht der sonst so guten Bilanz des Rads einen kleinen Strich durch die Rechnung.

Aber geht das nicht nachhaltiger?
Diese Frage quälte auch den Niederländer Johannes Alderse Baas nächtelang. 2014 will der Engineeringstudent deshalb – frei nach dem Motto „One man’s trash is another man’s treasure“ – seine Idee zu einem Bike aus recyceltem Plastikmüll umsetzen. Denn: Im Vergleich zu den herkömmlichen Metallrahmen kann Kunststoff mit geringem Energieaufwand vor Ort recycelt und umgeformt werden. Der Gedanke an ein niemals rostendes, öl- und fast wartungsfreies Rad brachte Baas dazu, knapp ein Jahr später den ersten Prototypen in seinem Zimmer zu bauen. Unverzüglich erhält er dafür Lob, Auszeichnungen und Medienpräsenz. Er nutzt die positive Resonanz und setzt in guter, alter Start-up-Manier eine Crowdfunding-Kampagne auf. Die soll die Produktion der ersten hundert Bikes finanzieren. In nur sechs Tagen erreicht Johannes sein Ziel und kann sogar 125 Stück fertigen. Ein riesiger Erfolg für den Niederländer, der seine Begeisterung für das Fahrrad-Business von seinem Großvater, der selbst Inhaber einer Fahrradwerkstatt war, vererbt bekommen hat.

Lokal, nachhaltig und transparent
Das Unternehmen wächst. Johannes Baas Bruder Benjamin steigt mit ein, das Team vergrößert sich, erste Investoren und Investorinnen unterstützen das Start-up und die Weiterentwicklungen laufen auf Hochtouren. 2020 gelingt „mtrl“ (früher übrigens Dutchfiets, also „dutch bikes“) dann der Launch der nächsten Generation des Fahrrads. Dieses besteht aus hochwertigen und
vollständig recycelten Kunststoffabfällen.
Die Produktion wird mit 100 Prozent erneuerbarer Energie im Labor im niederländischen Nijkerk betrieben. Das sorgt einerseits für einen geringeren CO2-Fußabdruck, andererseits für eine schnellere und transparentere Lieferkette, ohne auf Bauteile aus Asien angewiesen zu sein. Jedes Teil des Bikes wurde sorgsam konzipiert, getestet und ist auf den langjährigen Gebrauch ausgerichtet. Der daraus entstehende geringe Wartungsaufwand sorgt dafür, dass weniger Ersatzteile nachproduziert werden müssen und keine schädlichen Öle in die Umwelt gelangen. Denn alle beweglichen Bauteile basieren auf reibungs- sowie verschleißtechnisch optimierten Tribo-Kunststoff- und Kompositzusammensetzungen, die mit integrierten Festschmierstoffen eine geringe Reibung, ergo eine geringe Abnutzung sicherstellen.

Von Ocean Plastics zu Motion Plastics
Die Welt hat ein Plastikproblem, keine Frage. Der Kunststoff stapelt sich in Deponien, schwimmt im Meer und liegt überall dort, wo man ihn nicht haben will. Konzepte wie das von Johannes Baas und seinem Bruder, die dabei helfen, aus dieser Linearwirtschaft eine Kreislaufwirtschaft zu machen, braucht es dringend. Um die Entwicklung des „Circular Bikes“ noch besser voranzutreiben, hat sich „mtrl“ 2021 mit „igus“, einem deutschen Hersteller von technischen Produkten aus Hochleistungskunststoffen und Experten für Bewegungskunststoffe, zusammengetan. Mit dem Know-how und dem weltweiten Labornetz von „igus“ gelang es in enger Zusammenarbeit, die vierte Generation des urbanen Bikes zu finalisieren – noch zuverlässiger, leichter, ästhetischer und einfacher sowie sauberer in der Produktion. Um das Fahrrad in seiner jetzigen Form hervorzubringen, haben die beiden Partner die „igus:bike-Plattform“ ins Leben gerufen, die Fahrradherstellern auf der ganzen Welt die Möglichkeit bietet, an der Verbesserung ihrer Technologie mitzuarbeiten. Sie soll bisher gewonnenes Wissen zugänglich machen und zu einer Anlaufstelle für jene werden, die ebenfalls ein Kunststofffahrrad fertigen und die Zukunft der Mobilität verändern wollen.

Die 4.0 Version des Plastikbikes, die kürzlich mit dem „German Design Award 2023“ in der Kategorie „Excellent Product Design – Bicycles and E-Bikes“ ausgezeichnet wurde, wiegt übrigens etwa 17 Kilogramm und kommt in zwei Versionen, einmal aus neuen Kunststoffen und einmal aus recyceltem Plastik. Kosten soll das Rad der Zukunft zwischen 1.200 und 1.400 Euro, je nachdem, welche Ausführung man wählt. Lieferbar ist es für den deutschen Markt ab Sommer 2023. Aktuell arbeiten Baas und sein Team bereits an einem Kinderrad und einem E-Bike – aus recyceltem Plastik versteht sich. mtrl.bike, igus.bike


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