Nikolaus Geyrhalter

Nikolaus Geyrhalter in seinem Studio in Wien, Währing. Foto Ursula Röck

„Wir sind alle wahrscheinlich gut und auch ein wenig böse.“

Der Wiener Nikolaus Geyrhalter zählt zu Österreichs wegweisenden Dokumentarfilmern. Ein Gespräch über Müllberge und Mittelaltermenschen sowie die Aussicht, dass sich die Welt in
200 Jahren noch drehen wird.
Von Wolfgang Paterno

Nikolaus Geyrhalter, 50, gründete bereits in jungen Jahren die „Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion“ (NGF), die er seit 2003 gemeinsam mit drei Gesellschaftern führt. Als Regisseur, Kameramann und Drehbuchautor in Personalunion – Geyrhalters seit Jahren bevorzugter Arbeitsmethode – debütierte er 1994 mit „Angeschwemmt“, einem Porträt der Donau mitsamt ihren wunderbar-wunderlichen Fluss-Anrainern. „Das Jahr nach Dayton“ (1997) beobachtete eine europäische Region nach dem Krieg. „Unser täglich Brot“ (2005) wagte sich in die Welt der industriellen Nahrungsmittelproduktion und der High-Tech-Landwirtschaft vor. Insgesamt 15 Filme Geyrhalters listet die Homepage geyrhalterfilm.com auf, bis zur jüngsten Produktion „Matter out of Place“, die dem vom Menschen verursachten Müll quer über den Planeten folgt.

Herr Geyrhalter, ein bekanntes Kinderlied behauptet, es sei schön auf der Welt zu sein. Stimmen Sie zu?
Das ist die reine Wahrheit, trotz allem.

War es um die Welt vor, sagen wir, zehn Jahren besser bestellt?
Vor 30 Jahren hatten wir einen Krieg vor der Haustür. Aber ab der Jahrtausendwende kehrte in Mitteleuropa eine satte Gemütlichkeit ein, die uns wenig zum Nachdenken brachte. Umweltschutz war zwar ein Thema, aber es hat sich als überschaubar und lösbar dargestellt. Es ging uns gut, weil wir verdrängten, was weiter weg um uns herum geschah.

Was ist gegenwärtig auf unserem Erdenrund los?
Historisch gesehen ist wohl das eher normal, was gerade vor sich geht. Dennoch würde einem Menschen des Mittelalters unsere Gegenwart wie das Paradies erscheinen. Wir dürfen nicht vergessen, welche Errungenschaften wir erreicht haben – auch wenn sich unser Lebensstandard negativ auf Umwelt und Klima auswirkt.

Daran kommt inzwischen wohl niemand mehr vorbei.
Klar. Ich bin aber kein Spezialist für den Klimawandel, sondern Fotograf und Filmemacher. In meiner Arbeit fasziniert mich das Zusammenspiel der Menschen mit ihrer jeweiligen Umgebung, mit der Natur, dem Environment. Im Grunde interessiert mich dabei mehr der Mensch als der Klimawandel. Wie leben wir? Weshalb leben wir so? Wie ticken wir? Versucht man, Antworten auf diese Fragen zu finden, landet man zwangsläufig bei den Auswirkungen.

Wodurch werden Sie auf ein bestimmtes Sujet für Ihre Arbeit aufmerksam?
Die Neugier muss mich packen. Ich mache Filme, die ich selbst sehen möchte, die es noch nicht gibt. Um meine Geschichten erzählen zu können, benötige ich Bilder von Menschen in weiter Landschaft: Bilder, die zeigen, was der Mensch angerichtet, wie sich dadurch eine Umwelt verändert hat, auch immer global betrachtet. Für etliche Themen geht sich diese Arbeitsweise nicht aus: Einen Film über Künstliche Intelligenz, der sicher spannend wäre, könnte ich mit meinen Mitteln nicht drehen, da zwangsläufig Menschen vor Monitoren zu sehen wären. Ich brauche für das Kinoerlebnis die Weite der Bilder, um das Resultat menschlichen Handelns auf der großen Leinwand zeigen zu können.

Fällt es Ihnen schwer, Ihre Neugier zu kanalisieren?
Ich bin nicht weniger oder mehr neugierig als der durchschnittliche Österreicher. Mein Beruf ist, Bilder zu machen. Deshalb bin ich auf der Suche nach Themenfeldern, die ich für relevant erachte. Ich renne deshalb aber nicht ständig superneugierig durch die Welt. Die Kamera ist mein Werkzeug. Das Bildermachen selbst ist ein handwerklicher Akt, der mich oft mehr beschäftigt als die schiere Neugier, worüber man noch Filme drehen könnte. Filme kann man bekanntlich über alles machen.

Ihr neuer Film „Matter out of Place“ ist eine eindringliche Dokumentation über das globale Müll- und Abfallvorkommen. Wie darf man sich die Arbeit daran vorstellen?

Wenn nicht gerade Pandemie ist, dauert die Herstellung meiner Filme von der ersten Idee bis zum finalen Schnitt rund drei Jahre, davon sind rund sechs bis acht Wochen echte Drehzeit. Es ist also keineswegs so, dass ich ständig in der Welt herumreise. Meine Filme sollen dem Publikum die Möglichkeit eröffnen, sich im Kinosaal an Orten wiederzufinden, die im Regelfall nicht öffentlich zugänglich sind oder geografisch fernab liegen. Ein Film wie „Matter out of Place“ lebt davon, dass ich hinter der Kamera stehe – was natürlich Unterwegssein erfordert.

Wurden Sie in diesem Zusammenhang bereits mit Fragen nach Ihrem individuellen CO₂-Fußabdruck konfrontiert?
Durchaus. Meine Antwort darauf: Man muss versuchen, diesen möglichst gering zu halten, indem man zum Beispiel das reisende Filmteam überschaubar hält und mit lokalen Teammitgliedern arbeitet. Damit kann man schon einiges bewirken. Aber die Grundsatzentscheidung lautet: Sollen solche Filme entstehen – oder eben nicht. Der CO₂-Fußabdruck ist bei meiner Art des Arbeitens immer noch wesentlich geringer als bei Spielfilmen. Dennoch hinterlässt jeder meiner Filme eine CO₂-Spur, vergleichbar einer Wohlstandfamilie auf vierwöchigem Weltreiseurlaub.

Weshalb Müll als Thema?
Viele Themen sind da. Als wir mit dem Drehen des Films begonnen haben, war die Welt eine andere: Es gab keine Pandemie und keinen Krieg in der Ukraine. Damals war Müll ein großes Thema, inzwischen hat sich der Fokus bekanntlich verschoben. Die Umweltthemen dürfen dennoch nicht vergessen werden. Der Krieg wird irgendwann ein Ende finden, die Pandemie bekommen wir mutmaßlich in den Griff. Die Umweltverschmutzung und die Klimakatastrophe aber bleiben. Der Menschheit mangelt es offenbar an einem Evolutionsschritt: Seit 100 Jahren wissen wir, dass Kunststoffe praktisch nicht verrotten, dennoch erzeugen wir Berge davon. Im Mittelalter wurde der Müll aus den Fenstern auf die Gasse gekippt. So gesehen leben wir noch immer im Mittelalter.

Sind Sie dafür berüchtigt, in vertrautem Kreis Anekdoten von Ihren Reisen zum Besten zu geben?
Überhaupt nicht. Ich werde von meinem Freundeskreis auch gar nicht danach gefragt. Es braucht auch keine Anekdoten, auf die meist Sarkasmus folgt. Meine Filme übernehmen das Erzählen. Ich versuche ohnehin, auf dem Boden zu bleiben, weil der Beruf des Filmemachers genügend Diskrepanzen mit sich bringt. Man arbeitet oft unter jenseitigen Bedingungen, isst in Lokalen, um die man im Privatleben einen Bogen machen würde, übernachtet in Zelten oder schmutzigen Betten – und präsentiert den fertigen Film dann auf dem roten Teppich. Vor einem Publikum mit einer vollkommen anderen Lebensrealität als jener, welche die Menschen in meinen Filmen erleben.

Kommt es vor, dass Sie einen Abend mit Hollywood-Spielfilm vor dem Fernseher verbringen?
Eher selten. Ich mache lieber meine eigenen Filme. Vielleicht ist das ja eine milde Form von Autismus. Es würde mich überhaupt nicht interessieren, in einem Spielfilm-Setting, in dem man so gut wie alle Fäden in Händen hält, eine Geschichte zu erzählen. Es interessiert mich, Bilder aus einer Realität heraus zu erzeugen, die es wirklich gibt. Ich würde mich als Regisseur nie derart ernst nehmen, dass ich meine Vision der Welt umsetzen wollte.

Empfinden Sie sich als Erzähler?
Vordergründig erzähle ich mit meinen Bildern Geschichten. Ich habe aber natürlich auch eine Haltung zu meinen Themen, die zwischen den Zeilen spürbar ist. Idealerweise erschließt sich das Publikum selbst den Film – und verlässt mit einer vermutlich kritischeren Einstellung das Kino.

Das Publikum soll zum Nachdenken angeregt werden?
Unbedingt. Einfaches Denken und Handeln in Schwarz-Weiß war und ist kurzsichtig. Wir sind alle wahrscheinlich gut und auch ein wenig böse. Manche mehr, andere weniger. Zu Hause trenne ich meinen Abfall, unterwegs wandert zuweilen eine PET-Flasche in den Restmüll. Ich fahre ein Auto, bin aber auch gern mit dem Fahrrad unterwegs. Moral und Wahrheit sind immer schon sehr subjektive Angelegenheiten!

Henri Cartier-Bresson bemerkte einst, er sei als Fotograf unsichtbar. Können Sie mit diesem Bonmot etwas anfangen?
Niemand ist unsichtbar. Ich versuche bei den Dreharbeiten nie, ein derartiges Setting zu befördern. Es ist reine Illusion zu glauben, dass da keine Kamera sei! Wir filmen keine wilden Tiere mit Teleobjektiv, sondern Menschen in einem Gesamtarrangement, auf einer Art Bühne. Wenn überhaupt, verstecke ich mich hinter der Kamera und stelle von dort Fragen, um die Blickrichtung in die Linse zu lenken. Wir bilden auch nie Realität ab, sondern gefilmte Realität – was das Kinogefühl am Ende ausmacht.

Jeder von uns trägt inzwischen, mit dem Handy, die Dunkelkammer in der Hosentasche mit sich herum. Warum drehen Sie überhaupt noch Filme?
Genau deshalb, weil die Welt vor Kurzvideos und fotografischen Sekundeneindrücken übergeht.

Eine große Frage zuletzt: die Aufgaben des Dokumentarfilms?
Ich betrachte meine Arbeit als Gegenbewegung zu all dem, was im Fernsehen und auf diversen Online-Kanälen passiert. Als eine von einer gewissen Langsamkeit getragene Betrachtung, die nicht vorgibt, Antworten zu liefern, sondern Fragen zu stellen. Filme verändern die Welt nicht. Sie können aber minimale Bewusstseinsveränderungen beim Publikum bewirken. Meine Filme sind auch Zeitdokumente für zukünftige Archive. Sie sollen als Gegenwartsdokumente relevant und in 100 oder 200 Jahren noch lesbar sein. Ich mache Filme, die etwas über unsere heutige Welt erzählen, die für die kommenden Generationen ein Bild der Gegenwart festhalten.

Das heißt also, dass sich die Welt in 200 Jahren noch drehen wird?
Um den Planeten müssen wir uns keine Sorgen machen. Um uns selbst vielleicht schon eher. Zugleich gehe ich davon aus, dass die Menschheit derart resilient sein dürfte, sich selbst nicht komplett auszurotten. Fraglich bleibt nur, ob das Leben noch so lebenswert wie heute sein wird.


Trailer zu Matter out of Place


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