Ohne jede Spur

Das Hamburger Bioökonomie-Start-up „traceless materials“ hat eine Alternative zu Plastik entwickelt. Das Verfahren ist bislang einzigartig und das Ergebnis kann sich sehen lassen – beziehungsweise nicht sehen lassen: „traceless“-Produkte können sich zersetzen und spurlos verschwinden.
Von Katrin Brahner
Wer sich mit der Plastikverschmutzung auf der Erde beschäftigt, stößt auf Zahlen, die die eigene Vorstellungskraft weit übersteigen: 16,13 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle fielen 2021 in der EU an (Europäisches Parlament), in Deutschland waren es 5,67 Millionen Tonnen (Deutsches Umweltbundesamt), in Österreich sind es rund 920.000 Tonnen jährlich (BMK Österreich). Während sich der Plastikmüll an Land zu Bergen stapelt, treibt im Nordpazifischen Ozean eine Insel aus mehr als 1,8 Billionen Plastikteilen umher. Die Plastikinsel ist fast dreimal so groß wie Frankreich. Wie schön wäre es, wenn solche Berge an Müll einfach verschwinden könnten? Sich in Luft auflösen, als wären sie nie da gewesen?

Dank des Hamburger Bioökonomie-Start-ups „traceless materials“ könnte diese Traumvorstellung Wirklichkeit werden: Die Gründerin Anne Lamp hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich aus Pflanzenresten ein plastikähnliches Material gewinnen lässt. Produkte aus diesem Material lassen sich auf dem Kompost entsorgen. Dort werden sie von den Mikroben aus der Natur über mehrere Wochen zersetzt – bis sie selbst wieder ein Teil der Natur sind.
Plastik aus Getreide
Die Idee basiert auf dem Cradle-to-Cradle-Prinzip („Wiege zu Wiege“), einem Ansatz für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft. Demnach sollen alle Materialien eines Produkts nach dem Gebrauch in den Kreislauf zurückgeführt werden, aus dem sie entnommen wurden. Schon während ihres Studiums der Verfahrenstechnik in Hamburg hat sich die heute 33-jährige Anne Lamp mit dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft beschäftigt. „Ich wollte einen Weg finden, Produkte anders zu gestalten, mit erneuerbaren Ressourcen und ohne dass dabei am Ende Berge von Plastikmüll zurückbleiben“, sagt sie.
Im Rahmen ihrer Doktorarbeit und Forschungen im Bereich biobasierter Technologien entwickelte sie das „traceless“-Verfahren. Als Ausgangsprodukt dienen Pflanzenreste, die in der industriellen Getreideverarbeitung anfallen. Zum Beispiel beim Brauen von Bier oder bei der Herstellung von Stärke und Bioethanol. „Aus diesem Ausgangsstoff extrahieren wir ein Biomaterial, das wir anschließend in Granulatform bringen“, erklärt Anne. Das Ergebnis sind kleine braune Pellets, die vollständig pflanzlich und frei von schädlichen Stoffen sind.
Obwohl das „traceless“-Material chemisch gesehen kein Kunststoff ist, weist es ähnliche Eigenschaften auf. Es lässt sich zum Beispiel schmelzen. Für Unternehmen, die bisher mit Kunststoff arbeiten, bietet dies einen entscheidenden Vorteil: Sie benötigen keine neuen Maschinen. Statt Kunststoffpellets verwenden sie einfach das „traceless“-Granulat, um ihre Produkte wie gewohnt herzustellen.
Verpackungen und Pommesgabeln
Bislang testet „traceless“ zwei Produkte auf dem Markt. Für das Modelabel C&A hat das Start-up kleine Aufhänger für Socken oder Unterwäsche entwickelt. Für das amerikanische Gastronomieunternehmen Aramark stellt „traceless“ Pommesgabeln her. Aktuell in der Entstehung sind zudem E-Commerce-Verpackungen mit „traceless“-Folie für Versandhäuser wie Otto und Papierbeschichtungen für den Verpackungshersteller Mondi.

„Unternehmen sind sofort neugierig und begeistert, wenn wir von ‚traceless‘ berichten“, sagt Anne. „Denn so einen reinen Naturstoff als Alternative zu Kunststoff gibt es bislang noch nicht auf dem Markt.“ Kein Wunder also, dass „traceless“ seit der Gründung 2020 auf 65 Mitarbeitende angewachsen ist, mehrere Preise, darunter den Deutschen Gründerpreis, und Förderungen in Millionenhöhe erhalten hat.

Gute Ökobilanz in der Produktion
Noch produziert das Start-up in einer Pilotanlage unweit von Hamburg. Sie wirft ein paar Tonnen Granulat pro Jahr ab. Gegen Ende dieses Jahres will „traceless“ eine neue, großtechnische Produktionsanlage in Hamburg in Betrieb nehmen. „Früher befand sich in dem Gebäude eine Großbäckerei. Wir arbeiten jetzt auch mit Getreide, genau genommen mit Getreideresten. Daraus lassen sich allerdings keine Brötchen mehr backen“, erzählt Anne. Stattdessen will das Start-up ein paar tausend Tonnen der Pellets pro Jahr produzieren – und das Verfahren erstmals im großen Stil testen.
Dabei ist der ökologische Fußabdruck von „traceless“ deutlich kleiner im Vergleich zur Herstellung von Plastik. Denn dieses aus Erdöl herzustellen, ist aufwändig und es bedarf sehr viel Energie und Hitze. Die Moleküle des Erdöls müssen in Einzelteile aufgespalten und anschließend zu langen Molekülketten zusammengesetzt werden. Diese langen Molekülketten sind dann der eigentliche Kunststoff, das Polymer.

„Für Unternehmen, die bisher mit Kunststoff arbeiten, bietet ‚traceless‘ einen entscheidenden Vorteil: Sie benötigen keine neuen Maschinen. Statt Kunststoffpellets verwenden sie einfach das ‚traceless‘-Granulat, um ihre Produkte wie gewohnt herzustellen.“
Anne Lamp
„Was wir machen, ist einfacher“, sagt Anne. „Wir holen sozusagen die Kunststoffe der Natur aus den Pflanzen. Das passiert in einem einfachen Verfahrensschritt, dazu braucht es nicht so hohe Temperaturen und keine riesigen Raffinerien.“ Denn: In Pflanzen sind solche langen Moleküle bereits von Natur aus vorhanden. „Das wollten wir für uns nutzen“, so Anne. In Zahlen übersetzt heißt das: In Produktion und Entsorgung werden im Vergleich zu Kunststoff 91 Prozent CO2-Emissionen und 89 Prozent fossile Energie gespart.
Schnelles Handeln gefragt
Was Anne schon früh gemerkt hat: „Die Plastikindustrie ist eine riesige Industrie. Man muss groß denken, um etwas zu verändern.“ Das ist eine Chance, aber auch eine Herausforderung. Denn die fossilbasierte Kunststoffindustrie hat mehrere Jahrzehnte gebraucht, um die Materialien am Markt zu etablieren, Anlagen zu bauen und zu wachsen. „Wir hingegen haben es jetzt eilig. Wir alle stehen unter Druck, die Kunststoffverschmutzung zu lösen und wir wollen unseren Beitrag leisten“, sagt Anne. „Auch wenn Recyclingkunststoffe im Kommen sind, ist der Markt einfach zu groß. Die nachhaltigen Alternativen müssen alle zusammenhelfen, um den fossilbasierten Kunststoff auf null zu senken.“
Dementsprechend hoch sind die Ziele gesteckt: Mit der neuen Anlage soll der Markteintritt innerhalb der EU gelingen. Die Pläne für eine weitere, noch größere Anlage laufen bereits, bis 2030 will das Start-up so viel Material wie möglich produzieren. „Jede Tonne, die wir produzieren, ersetzt möglicherweise fossilbasierten Kunststoff“, so Anne. Und jedes Produkt aus „traceless“-Material kann eines Tages spurlos verschwinden – und Teil eines ewigen Kreislaufs werden.
Weitere Informationen: traceless.eu
Fotos: traceless