Orte der Kindheit

Essay von Kurt Bereuter

Wow, der alte Heustadel steht immer noch unverrückt da, obwohl er schon vor fünfzig Jahren schief stand und wo es sich herrlich verstecken ließ. „Onkel Toms Hütte“ nannten wir ihn, und er bot Sicherheit und Gewissheit, dass die Welt schön ist und so bleiben wird. Kindliches Denken und vor allem kindliches Fühlen. Als Familie mit Mutter und Brüdern.

Als ich vor wenigen Wochen wieder dort vorbeilief, hatte ich wohl bemerkt, dass er noch da ist – der alte Stadel. Aber nur als ich stehen blieb, mich hinsetzte und mir die Zeit gewährte, an früher zu denken, sind wie von selbst Erinnerungen und mit ihnen Gefühle erwacht, die längst ganz hinten in einem Erinnerungsregal verschüttet waren. Schön war es, als Kind hier zu sein und das Leben unreflektiert zu genießen. Schön ist es, hier zu sein und über das nachzudenken, was aus dem Leben geworden ist. „Leben ist das, was einem zustößt, während man auf die Erfüllung seiner Träume wartet“, soll John Lennon einmal gesagt haben. Das stimmt vielleicht ein klein wenig, denn wer nur wartet, wartet auf Godot – und der kommt bekanntlich nie. Nein, der Mensch muss seine Träume schon selbst in Angriff nehmen. Eigentlich habe ich das gemacht und kann ganz zufrieden darauf schauen, was aus dem kleinen Jungen geworden ist, der vor mehr als fünfzig Jahren schon einmal hier saß.

Und Sie – ja, Sie meine ich –, wissen Sie noch, wo Sie gespielt, wo Sie geweint und gelacht haben? Wo Sie getröstet wurden, wo Sie sich das erste Mal erwachsen fühlten, das erste Mal Händchen hielten, den ersten Kuss bekamen, einen Menschen neu kennenlernten oder ganz eins mit einem Menschen waren? Erinnern Sie sich an den einen Ort und an damals, an das Wetter, an die Gerüche, an die Geräusche und an das Reden und Lachen der Menschen, die damals bei Ihnen waren?

Was ist aus Ihren Träumen geworden, die damals wie Regenbögen unnahbar und fern lagen, aber doch leuchtend sichtbar vor Ihren Augen standen?

Gibt es den Baum noch, an dem die Schaukel hing? Den Bach, wo wir die Forelle fingen, den Weg mit dem Holderbaum zum Haus der Oma oder … das Bildstöckchen? Ja, das ist noch da, an dem wir stehen blieben und ehrfurchtsvoll schauten und die Mutter sich bekreuzigte und sich vielleicht etwas wünschte, was sie von uns Kindern fernhielt.

Wenn ich heute an meine Orte der Kindheit zurückdenke, denke ich solche Orte meiner eigenen Kinder mit. Für die war ich teilweise zuständig, und doch können sie nicht so einfach zu solch tiefen Orten gemacht werden. Und ja, manchmal sind es dieselben Orte, die ich ihnen zeige, die ich mit ihnen besuche, die ich schon mit meinen Eltern besucht habe. Klar, dass die Ehrfurcht vor diesen Orten bei ihnen fehlt, aber vielleicht wird ein Keim in ihre Erinnerung gesetzt, der sich dort verfestigt und hängen bleibt – in alle Ewigkeit eines Lebens. Dabei sind es meistens die kleinen, versteckten Orte, an denen die Erinnerung hängt, nicht die großen, wie die Insel Mainau anlässlich der Firmung oder ein Urlaub irgendwo, den es bei uns nicht gab. Nein, suchen wir die „kleinen“ Orte, es waren vielleicht die „großen“ Orte eines kindlichen Alltags, wie die Hütte, in die wir eingedrungen waren, um das Wetter abzuwarten, oder die Gumpe, in die mein Bruder gefallen ist und dann mit nassen Kleidern im Auto saß.

Erinnern Sie sich an Ihre Spielkameraden als Kinder, an Ihre Schulkameraden in der ersten Klasse, an die Fehden mit den Nachbarskindern? Was ist bloß aus ihnen geworden? Klaus, Marlene und Josef sind gestorben, bevor sie alt waren, andere wohnen ein paar Häuser weiter und wurden nie mehr gesehen.

Erinnern Sie sich noch an besondere Orte Ihrer Kindheit? Orte, an denen etwas geschah, das Sie nicht vergessen haben, wo Sie noch immer, ohne es zu wollen, Gefühle wiederfinden, die damals prägend waren? Manche sind auf Fotos gebannt und beim Betrachten fühlt man sich augenblicklich an den Ort zurückversetzt. Jetzt verstehe ich meine Oma, warum sie so gerne in ihrem Fotoalbum blätterte und erzählte, was für mich so weit weg war – für sie aber ganz nah da.

Hatten Sie einen Lieblingsort? Wo war der? Was ist aus ihm geworden? Warum war es Ihr Lieblingsort? Was hat ihn ausgemacht? Etwas von dem kann vielleicht immer noch da sein, tief in Ihnen drinnen. Vielleicht gibt es immer noch die Sehnsucht nach dem, was dieser Ort geboten hat: Einsamkeit, Zweisamkeit, Gemeinsamkeit oder Konspiratives, ein Ort der Freiheit oder der Sicherheit, der Aussicht oder der verborgenen Einsicht. Was auch immer, es gab etwas, das diesen Ort für Sie zum Lieblingsort machte. Es könnte spannend sein, dem nachzufühlen, das zu ergründen. Vielleicht gibt es immer noch einen Antrieb tief in Ihnen drinnen, der sich nach diesem Lieblingsort und dem, was ihn ausmacht, sehnt. Wer den Kern gefunden hat, kann auch den Lieblingsort wiederfinden, egal wo, und meistens gibt es diesen Ort mehr als nur einmal.

Orte der Kindheit besuchen

Die Orte sollten wir wieder besuchen, solange wir es noch können, solange es diese Orte noch gibt. Sie werden staunen, wie viele Orte es so nicht mehr gibt, aber noch mehr staunen, dass es ein paar dieser Orte immer noch gibt – sie waren nur vergessen, von Ihnen selbst und von den Veränderungen. Aber das ist gar nicht wichtig, denn es gibt sie – in Ihrem Kopf, in Ihren Erinnerungen, und dort kann sie niemand wegschaffen oder verändern – nicht einmal Sie selbst. Mögen es schöne Orte der Kindheit, schöne Orte der Erinnerung sein – es gibt sie – in jedem Leben, wir müssen uns nur der Erinnerung widmen. Kramen Sie alte Bilder heraus, betrachten Sie diese und erinnern Sie sich zurück und lassen Sie Ihrer Erinnerung freien Lauf – die Gefühle kommen ganz von selbst. Was Sie taten, was Sie dachten, was Sie fühlten, wer dabei war und was es ausmacht, dass Sie sich erinnern. Und dann besuchen Sie die Orte Ihrer Kindheit und Sie werden staunen, an was wir uns alles erinnern, wenn ein Ort der Kindheit sich unserer Seele annimmt. Und Sie werden nie allein sein, es werden immer die Menschen der Kindheit Teil der Erinnerung sein. Vielleicht sollten Sie in diesem Sommer auch wenigstens einen Ort Ihrer Kindheit besuchen, einsam, zweisam oder mit der ganzen Familie. Möglicherweise ist es ein Ort, an den Sie schon immer einmal zurückkehren wollten und der Ihnen immer noch etwas „zu sagen“ hat. Vielleicht in diesem Sommer – es liegt ganz an Ihnen.


Kurt Bereuter, geboren 1963 in Alberschwende, aufgewachsen in einer Handwerkerfamilie, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Betreibt ein Institut für praktische Philosophie in Alberschwende als Organisationsentwickler, Coach und Moderator. Daneben ist er freier Journalist und Autor mehrerer Buchbeiträge. Er liebt es, mit seinem Hund durch die Wälder zu streifen und mit der Familie zu wandern


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