OUTFIT MIT INPUT

Die britische Modedesignerin Bethany Williams tritt für ein Umdenken in der Fashion-Industrie ein. Sie entwirft Kleidung, die soziales Engagement und Nachhaltigkeit vereint.
Von Jutta Nachtwey

Was bitte hat Mode mit Obdachlosen zu tun? Viele Leute meinen, diese zwei Sphären könnten gegensätzlicher nicht sein: Die eine widmet sich der schönen Hülle, die andere dem nackten Kampf ums Überleben. Für Bethany Williams sind diese zwei Welten dagegen kein bisschen widersprüchlich – sie weiß diese sogar aufs Engste miteinander zu verweben, wobei sie auch das Thema Nachhaltigkeit kontinuierlich einbindet.
Seit ihrer Abschlussarbeit am London College of Fashion 2016 nutzt sie Mode als Medium, um soziale Missstände zu beleuchten, und als kreatives Werkzeug, um ausrangierte Materialien aufzuwerten. Im letzten Jahr entwarf sie die Kollektion „Adelaide House“, benannt nach einem Zufluchtsort in Liverpool für Frauen, die vor häuslicher Gewalt oder Obdachlosigkeit Schutz suchen oder gerade aus dem Gefängnis kommen. Für diese Stoffe verwendete sie zum Beispiel Papierabfälle der Zeitung „The Liverpool Echo“ und hauchte Second-Hand-Jeans per Siebdruck neues Leben ein. In der italienischen Gemeinde San Patrignano ließ sie Buchabfälle zu neuen Stoffen verweben – dort werden Drogenabhängige und marginalisierte Menschen für diverse Berufe qualifiziert. Alle Fäden stammen vom Organic Textile Producer Green Fibres.

In Williams Kleidern erzählt also quasi jede Faser, jedes Detail eine eigene Geschichte – und diese verschiedenen Geschichten verbinden sich zu einem radikalen Gegenentwurf zum herkömmlichen Modesystem. In einem Interview der britischen „Vogue“ erklärte sie im Januar: „Ich möchte, dass meine Arbeit einen sozialen Nutzen hat. Fashion bietet die Möglichkeit, Ideen zu erweitern und sie auf eine größere Bühne zu bringen.“ Der soziale Nutzen ihrer Kollektionen entfaltet sich dabei in verschiedenen Richtungen. Zum einen sorgt Williams für finanzielle Unterstützung – 20 Prozent des Erlöses gehen an die jeweilige Hilfsorganisation, der sie ihre Kollektion widmet. Zum anderen schenkt sie vielen Menschen neue Hoffnung: „Wenn die Mädchen in San Patrignano etwas in der ,Vogue‘ sehen, das sie selbst von Hand gewebt haben, gibt ihnen das Mut und Vertrauen“, erzählte sie 2018 im „Guardian“. Darüber hinaus gelingt es Williams, mit coolem Style statt erhobenem Zeigefinger auch Mode-Enthusiasten zu erreichen, die sich sonst solchen Themen nicht widmen würden. Die Kleider liefern Stoff für Gespräche und initiieren einen gesellschaftlichen Dialog über sozialen Wandel und unsere Wegwerfkultur.

Mit ihrer Herbst/Winter 2020-Kollektion, die sie in Kooperation mit der Londoner Wohltätigkeitsorganisation The Magpie Project entwickelte, lenkt sie den Blick auf die Lebensbedingungen von Migranten, die in Großbritannien keinen Zugang zu öffentlichen Sozialhilfemaßnahmen erhalten und in temporären Unterkünften leben müssen. Als Titel der Kollektion wählte sie die offizielle Bezeichnung für deren Status: „No Recourse to Public Funds (NRPF)“. Das Magpie Project setzt sich dafür ein, dass insbesondere die Kleinkinder unter dem Alltag in provisorischen, oft ungeeigneten Unterkünften nicht zu sehr leiden müssen. Die Unterstützung reicht von essentiellen Dingen wie handgefertigten individuellen Babydecken für Neugeborene bis hin zu „Rhyme and Song“-Kursen für Mütter und Kinder.
Daran angelehnt wählte Bethany Williams die Themen Mutterschaft, Kindheit, familiäre Verbundenheit – auch auf Wahlfamilien ausgeweitet – zur inhaltlichen Klammer für ihre Kollektion. Sie verarbeitete aussortierte Bettwäsche, alte Wolldecken und textile Bänder, die bei der Spielzeugherstellung abfallen. Außerdem verwendete sie den Stoff von Zelten, die ursprünglich auf einem Glamping-Platz zum Einsatz kamen. Im Kontext der Kollektion kommuniziert das Material einerseits das Thema Obdach und Schutz, andererseits den Kontrast von Luxus und Armut.
Für die Fertigung der Kleidungsstücke arbeitete Williams im Rahmen des Projekts „Making for Change“, welches das London College of Fashion zusammen mit dem Justizministerium initiierte, auch mit Ex-Straftätern und Gefängnis-Freigängern zusammen. Williams spannt darüber hinaus auch ihre Anhängerschaft in die Produktion ein. Bei ihrer Recherche fand sie heraus, dass die Kleiderspenden an Magpie viel zu wenig Socken enthalten. Deshalb gestaltete Williams in Kooperation mit dem Garn-Anbieter Wool and the Gang, der sich dem Thema Nachhaltigkeit verschrieben hat, Socken-Kits samt Anleitung zum Download, sodass nun jeder selber Bethany Williams-Socken stricken und an Magpie spenden kann. Eine Art interaktive Modemarke also, die soziales Engagement per Crowdsourcing verstärkt.

Beeindruckend ist die Konsequenz, mit der Williams ihre Ideen stetig ausweitet. Bereits in ihrer Abschlussarbeit am London College of Fashion entwickelte sie zusammen mit der Supermarktkette Tesco und der Vauxhall Food Bank eine Kollektion namens „Breadline“, die auf recyceltes Material setzte und versteckten Hunger in Großbritannien thematisierte. Damals dachten viele, dieser Idealismus sei eben typisch für eine studentische Arbeit, aber völlig ungeeignet für das reale Modebusiness. Williams bewies mit Kreativität und Hartnäckigkeit das Gegenteil. Als sie im letzten Jahr den Queen Elizabeth II Award for British Design erhielt, sagte Professor Frances Corner, Leiterin des London College of Fashion, in ihrer Laudatio: „Sie verkörpert einen Systemwechsel, an dessen Möglichkeit viele gezweifelt haben.“ Williams zeige mit ihrem intelligenten und rücksichtsvollen Ansatz, wie Mode sein könnte und sein sollte. Dabei lobte sie auch, dass die Designerin eine enge Verbindung schaffe zwischen ihren Kunden und den Menschen, die deren Kleidung hergestellt haben.

Insgesamt räumt Williams also gründlich mit dem Vorurteil auf, dass Mode nur schöne Hüllen hervorbringt. Sie lädt Outfits stattdessen mit Sinn, Werten und Authentizität auf und ermöglicht es, durch das Tragen dieser Kleider Haltung zu den zentralen Problemen unserer Zeit zu zeigen. Dagegen wirken andere Klamotten plötzlich hohl. Oder auch nicht, denn Williams schärft zugleich das Bewusstsein dafür, dass auch sonst Geschichten im Gewebe hängen – oft unschöne, die den scheinbar schönen Kleidern wie ein trüber Schatten anhaften.
Neben der Wertschöpfung, die Williams in vielerlei Hinsicht betreibt, zieht sich auch Wertschätzung als roter Faden durch ihre Arbeit. Bei ihren Fashion Shows engagiert sie als Models auch obdachlose Menschen – die unsere Gesellschaft ansonsten oft keines Blickes würdigt. Hier zeigen sie sich im Rampenlicht und tragen dabei Kleider, die ihre eigene Lebenswirklichkeit reflektieren. So würdigt Bethany Williams diese Menschen nochmals auf besondere Weise und ermöglicht es ihnen, als aktive Botschafter für Wandel in Erscheinung zu treten. 

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