Pfade in eine lebenswerte Zukunft

Foto Wolfgang Schmidt

Das „Future:Project“ definiert sechs Transformationen, die heute schon in die nächste Gesellschaft weisen. Transformationen sind mehr als Trends – sie sind grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen in Richtung einer lebenswerten Zukunft.
Von Lena Papasabbas

1. „Human Digitality“: Aus dem Vernetzungsrausch wird kultivierte Digitalität
In den vergangenen Jahrzehnten sind digitale Technologien in sämtliche Lebensbereiche vorgedrungen. Neben der Euphorie über technologischen Fortschritt erzeugt die Digitalisierung zunehmend auch Gefühle von Überforderung, Verunsicherung, Einsamkeit und diffuse Abhängigkeiten. Immer deutlicher zeichnet sich heute ab, was den Zukunftsbildern der Netzwerkgesellschaft von morgen bislang fundamental fehlt: ein ausgewogenes Verhältnis zur digitalen Revolution.

Wir stehen am Anfang der nächsten Evolutionsstufe der Digitalisierung: der Transformation zur „Human Digitality“. Im Zentrum dieser Weiterentwicklung steht ein neuer Umgang mit digitalen Technologien. Der ungebremste technologische Fortschritt wird sich künftig wieder stärker an tatsächlichen menschlichen Bedürfnissen ausrichten – die Digitalisierung wird sozusagen „gezähmt“: Kultivierte Digitalität statt „Always-on“ und „Second-screen“. Konkret: weniger und bewusstere Bildschirmzeit, Übertrag der Regeln der respektvollen Kommunikation und ethischer Standards in digitale Räume, sinnvoller gestaltete Endgeräte und Oberflächen, die auf inklusives und menschen-zentriertes Design setzen, statt darauf, möglichst lange die Aufmerksamkeit der Nutzenden zu binden, gesetzliche Anpassungen im Steuerrecht, Datenschutz und Urheberrecht und so fort – an vielen Stellschrauben wird bereits intensiv gearbeitet. Auf diese Weise entsteht ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Digitalität: Eine humandigitale Balance.

2. „Conscious Economy“: Aus der Leistungsgesellschaft wird die Sinnökonomie
Im Spätkapitalismus hat Profitmaximierung als Selbstzweck ausgedient. Wirtschaft und Wirtschaftlichkeit werden wieder stärker als Mittel zur Zielerreichung gesehen – und immer weniger als Ziel an sich. Dass Unternehmen zunehmend unter Druck geraten, ihren Mehrwert zu beweisen, zeigen die unzähligen Imagekampagnen, die den „Purpose” oder die „Mission” eines Unternehmens beweisen sollen. Doch die Konsumentinnen und Konsumenten sind hier immer kritischer:

Green-Washing- oder Woke-Washing-Kampagnen werden schneller als solche entlarvt – ernstgemeinte Verantwortungsübernahme jedoch begrüßt.

Die Überflutung der Märkte mit Produkten und Dienstleistungen hat in breiten Teilen der Gesellschaft für materiellen Wohlstand gesorgt – aber auch zu Überlastung von Mensch und Umwelt geführt. Angesichts demografischer Veränderungen, fortschreitender Vernetzung und vor allem der rasanten Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) wandelt sich gerade radikal, was insbesondere junge Menschen unter „Arbeit” verstehen.
KI und Automatisierung erleichtern viele monotone oder körperlich intensive Arbeitsschritte und unterstützen selbst kreative Prozesse maßgeblich. Das traditionelle Verständnis von Arbeit als mühsam und lästig, als Gegenpol zum Vergnügen, wird dadurch immer häufiger hinterfragt. Eine treibende Rolle für diesen Bewusstseinswandel spielt die Generation Y, die die Frage nach dem Sinn der Arbeit und ihrer Funktion zur Selbstentfaltung radikal in den Fokus gerückt hat. Neue Studien zeigen jedoch, dass der Wunsch nach Sinnhaftigkeit in der beruflichen Tätigkeit und eine gute Work-Life-Balance generations-übergreifend hoch im Kurs stehen. In der „Conscious Economy“ kommt Arbeit vollends in der nächsten Evolutionsstufe an: Arbeit dient fortan nicht mehr primär dem Gelderwerb, sondern wird zum Teil der Selbstverwirklichung.

3. „Co-Society“: Aus Polarisierung werden neue Brückenschläge
Befeuert von sozialen Medien und alarmistischer Berichterstattung heizen sich öffentliche Diskurse zunehmend auf. Von Gendern, über Impfungen, bis hin zum Klimaaktivismus – immer häufiger prallen (scheinbar) konträre Weltbilder aufeinander. Diese Entwicklung spiegelt einerseits den Vormarsch pluralistischer Lebensweisen wider, die vielfältige Perspektiven ermöglichen. Doch sie ist auch Symptom einer zunehmenden Polarisierung, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht.
Die Gefahr der sozialen Polarisierung macht die Suche nach neuen gesellschaftlichen Brückenschlägen zu einer zentralen Zukunftsherausforderung. Die Transformation zur „Co-Society“ zeigt sich heute schon in zukunftsweisenden Strukturen für ein konstruktives Miteinander:
Dialogorientierte Orte, lösungsorientierte mediale Formate oder partizipative demokratische Prozesse tragen dazu bei, Gemeinschaftsgefühle wieder zu stärken.
Relevant sind auch progressive Steuermodelle oder transformative Bildungskonzepte, die soziale Gerechtigkeit fördern – und so den sozialen Zusammenhalt stärken. Neue Formen von Beteiligung und Zugehörigkeit wirken der Dynamik zur Fragmentierung zusätzlich entgegen. Sie schaffen eine neue soziale Basis, indem sie den Weg in eine progressive Wir-Kultur ebnen.

4. „Mindshift Revolution“: Aus sozialer Ungleichheit werden ermächtigte Identitäten
Lebensstile werden immer individueller – mit unterschiedlichsten Weltbildern und immer spitzeren, häufig nur kurzlebigen Subkulturen. Bestehende Machtstrukturen werden aufgebrochen, gesetzte Normen hinterfragt und Ungleichheiten kritisiert – und das auf globaler Ebene, wie die großen „Social Justice Movements“, wie die anhaltende #Metoo- oder #Blacklivesmatter-Bewegungen eindrücklich zeigen. Wo altes und neues Denken aufeinandertreffen, entsteht Reibung.
Die „Mindshift Revolution“ bezeichnet eine Transformation von Denkweisen, Weltbildern und geistiger Haltung.

Sie verändert das Verhältnis zwischen Identität und Gesellschaft – und transformiert die Welt von innen heraus.

Der kontinuierliche Boom der Achtsamkeit markiert den Beginn einer neuen geistigen Grundhaltung. Die wachsende Anzahl der Mediations-Apps, Yoga-Studios, Bestseller über fernöstliche Philosophie, Mindfulness-Konferenzen und Weiterbildungen zeigen eine Suche nach einer neuen Haltung zur Welt an. Sie entsteht aus der Kritik des bestehenden Systems, hat sich aber auch aus seinen Möglichkeiten heraus entwickelt: Nie hatten die Menschen in den westlichen Industrienationen mehr Freizeit und weniger existenzielle Nöte. Erst diese luxuriösen Lebensverhältnisse ermöglichen die geistige Evolution.
Neben Achtsamkeit sind soziale Bewegungen wie der Feminismus und Antirassismus wirkungsvolle Triebfedern für den inneren Umbau. In der „Mindshift Revolution“ verfestigt sich die Erkenntnis, dass die Gestaltung einer lebenswerten Welt nur möglich ist, wenn strukturelle Diskriminierungen adressiert und dekonstruiert werden. In der nächsten Gesellschaft haben Merkmale wie Geschlecht, Herkunft oder Alter daher immer weniger Einfluss auf den gesellschaftlichen Status, die Berufswahl oder die Rolle in der Familie.

5. „Glocalisation“: Aus globaler Vereinheitlichung wird glokale Vielfalt
Die Globalisierung wurde lange als gleichbedeutend mit Fortschritt angesehen, der grenzenloses Wachstum und wachsenden Wohlstand für alle bedeutet. Inzwischen kennen wir die Schattenseiten einer unzureichend regulierten Globalisierung. Von Pandemien über fragile Lieferketten und Umweltprobleme bis hin zu neuen Kriegen: Multiple Krisen zeigen uns auf, dass die globale Vernetzung nicht nur Vorteile schafft – sondern auch Verliererinnen und Verlierer zurücklässt.
Mit dem wachsenden Bewusstsein für die wechselseitige Interdependenz von globalen und lokalen Kräften setzt das Prinzip der „Glocalisation“ ein und transformiert den globalen Determinismus der Hyperglobalisierung.

Globale und lokale Elemente werden wieder stärker miteinander in Beziehung gesetzt, sei es durch das Einbinden lokaler Energieproduzenten, re-regionalisierter Lebensmittelversorgung oder lokal-globalem Klimaaktivismus.

Aus diesen Verknüpfungen zwischen lokalen und globalen Strukturen besteht der Kern der „Glocalisation“. Denn nur durch das Einbeziehen von lokalem Wissen, lokalen Ressourcen und Gegebenheiten sowie einem neuen Fokus auf regionale Vielfalt, lässt sich den planetaren Herausforderungen des 21. Jahrhunderts konstruktiv begegnen.

6. „Eco Transition“: Aus grünem Verzicht wird systemische Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist ein umkämpftes Thema. Das Ende des fossilen Zeitalters läutet den Beginn einer ganzheitlich-ökosystemischen Gesellschaft ein. Eine solch fundamentale systemische Neugestaltung verläuft nicht von heute auf morgen und geht nicht ohne Brüche und Reibungen vonstatten. Globale Transformationen brauchen Zeit, bis sie ihre volle Wirkung entfalten – manchmal mehr, als wir ihnen zugestehen wollen.
Gegenwärtig stehen wir an einem besonderen Punkt der ökologischen Transformation, der nur allzu häufig mit Stagnation verwechselt wird. Für viele Jahrzehnte dienten die Erkenntnisse über die klimatischen Veränderungen in erster Linie der Schaffung eines breiten Konsenses, der die Notwendigkeit für Anpassungen unserer Lebens- und Wirtschaftsweisen betont. Nun beginnt jedoch die Ära der systematischen Umsetzung von sozio-ökologischen Lösungen.
Die Realisierung einer nachhaltigen Gesellschaft erfolgt durch die ganzheitliche Neugestaltung von Infrastrukturen, Produktionssystemen und Kulturtechniken. Damit geht ein neues Bewusstsein einher, das den gegenwärtigen Massenkonsum ablehnt, ohne auf individuelles Wohlbefinden zu verzichten. Vielmehr eröffnet die ökologische Verantwortung Raum für die qualitative Weiterentwicklung von bewussten, achtsameren Lebensweisen, deren Lebensqualität nicht auf der Ausbeutung der Umwelt fußt.


Lena Papasabbas ist Kulturanthropologin, Philosophin und Ethnologin und arbeitet bei „The Future:Project“ als Autorin, Forscherin und Speakerin. The „Future:Project“ ist ein transdisziplinär arbeitendes Expert:innen-Netzwerk aus Trend- und Zukunftsforschenden, die mit ihrem Wissen über Trends und Transformationen Organisationen dabei unterstützen, eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. Die grundlegende Quelle für die hier formulierten Thesen ist die Studie „Future:System – Transformation beyond Megatrends“. Mehr auf: thefutureproject.de


Teilen auf:
Facebook Twitter