Pigs and the City
Fotos Christopher Glanzl
Auf dem Biohof Maurer leben 120 Bio-Schweine, unweit der U-Bahn. Welche Rolle spielt Stadtlandwirtschaft für die Ernährungssicherheit Wiens?
Von Laura Anninger
In der Nacht sank die Temperatur auf zehn Grad Minus. Für Andreas Maurer bedeutete das: Die Nacht war kurz. Weil Uta, eine seiner schwäbisch-hallischen Landsauen, zehn Ferkel gebar, verbrachten der Bio-Landwirt und seine Partnerin die Nacht mit Wärmelampen und Decken im Stall. Ein schwaches Ferkel wärmten sie in der Badewanne auf. Am folgenden Morgen trägt die schwarz-weiß gefleckte Uta behutsam Stroh aus ihrem Auslauf im Maul in die Box, in der ihre Ferkel rasten. Andreas Maurer trägt Dreitagebart und gefütterte Schuhe. Er ist Vater einer kleinen Tochter und besitzt einen Abschluss in Agrar- und Nutztierwissenschaften. Heute führt er durch seinen Betrieb, auf dem auch rund 120 der knapp 200 Schweine auf Wiener Stadtgebiet leben.
Der Biohof Maurer ist einer von 418 landwirtschaftlichen Betrieben, die 6.336 Hektar Wiens bewirtschaften. In den östlichen Flächenbezirken wachsen etwa Getreide und Zuckerrüben. Mit Gurken, Tomaten, Salat oder Wein kann sich Wien annähernd selbst versorgen. Doch wie groß ist der Beitrag von Stadtlandwirten insgesamt zur Ernährungssicherheit Wiens?
Wie Wiens Ernährung zukunftsfit wird
Isabella Gusenbauer hört diese Frage oft. Sie forscht am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FibL) zu nachhaltigen und regionalen Lebensmittelsystemen. „Wir sollten eher die Frage stellen: Muss sich Wien selbst versorgen?“, sagt sie. Denn die Stadt profitiere stark davon, dass das Marchfeld, Österreichs größtes Gemüseanbaugebiet, an seinen Stadttoren beginnt. Weitet man den Blick, zeigt sich: Österreich ist ein Land mit hoher Ernährungssicherheit. Das hat vergangenes Jahr auch der Rechnungshof festgestellt. Ein Anzeichen dafür ist der Selbstversorgungsgrad. Er zeigt, welchen Anteil des eigenen Bedarfs ein Staat aus inländischer Produktion decken kann. Für Schweinefleisch liegt dieser in Österreich bei 104, für Gemüse aber nur bei 57 Prozent.
„Im Marchfeld wird in erster Linie Getreide für den Export oder die Fleischproduktion angebaut. Dazu kommt Feldgemüse wie Zwiebeln, Karotten oder Spinat“, sagt Alexandra Frangenheim, die am Institut für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung an der Universität für Bodenkultur forscht. Der Fokus liege auf der Masse, nicht auf der Sortenvielfalt. Der Selbstversorgungsgrad sagt nichts über die tatsächliche Versorgung mit regionalen Produkten aus. Um industriell Lebensmittel zu produzieren und auch zu exportieren, importiert Österreich phosphorbasierte Düngemittel, fossile Treibstoffe und rund 100.000 Tonnen eiweißhaltiges Tierfutter jährlich.
Gusenbauer und Frangenheim engagieren sich beim Ernährungsrat Wien. Die zivilgesell-
schaftliche Organisation versammelt Landwirtinnen und Landwirte, Verarbeitende, Forschende, Vertreter von Organisationen sowie Bürgerinnen und Bürger, die ein zukunftsorientiertes Ernährungssystem mitgestalten wollen. Gemeinsam mit der Umweltabteilung der Stadt Wien (MA22) hat der Rat eine Ernährungsstrategie erarbeitet, die den Weg dorthin aufzeigt. Ein starker Hebel, erklärt Gusenbauer, sei, den Bio-Anteil in der öffentlichen Beschaffung weiter anzuheben. Auch Bildung sei wesentlich, ebenso wie die Erhaltung von landwirtschaftlichen Betrieben, etwa im Donaufeld. „Diese Betriebe sind für die Versorgung der Stadt immens wichtig“, sagt sie. Neben Klimafolgen und dem Wasserverbrauch ist der hohe Bodenverlust ein Risiko für die langfristige Ernährungssicherheit, hebt der Rechnungshof hervor. Einheitliche Planungskriterien, die neben landwirtschaftlichen Flächen auch Biodiversitätsflächen berücksichtigen, könnten bei der Eindämmung helfen. Die Bundesländer Wien und Tirol sind die einzigen, die landwirtschaftliche Vorranggebiete ausgewiesen haben. Sie dürfen etwa nicht als Bauland gewidmet werden. In Wien sind es 4.878 Hektar. Bestimmte Flächen sind allerdings nur sehr schwach für die landwirtschaftliche Nutzung abgesichert, merkte der Rechnungshof an.
Der Schweinebauer sagt: Esst weniger Fleisch
Der Bio-Hof Maurer ist seit 1646 in Familienbesitz. Über die Jahrhunderte wurde die Stadt immer näher an die Felder heran betoniert. Heute erreicht man Uta und Co mit den U-Bahn-Linien U1 und U6. Als Andreas Maurer ein Kind war, bauten seine Eltern vor allem Zuckerrüben, Weizen, Gerste und Roggen an. Heute ist der Hof breiter aufgestellt. Neben Weizen, Mais, Soja sowie Kürbis- und Sonnenblumenkernen verkauft man Mastferkel, Schweinefleischprodukte und Eier von 440 Hennen. Außerdem leben auf dem Hof noch einige Ziegen. Denn, so Andreas Maurer: „Ein Bauernhof ohne Tiere, das passt einfach nicht.“
Der Bio-Landwirt steht in einem Auslauf. Die Nachmittagssonne scheint auf das Stroh, das dessen Boden dicht bedeckt. Hier lebt „Meister Eber“. Auf den ersten Blick flößt er mit seinen imposanten Hauern und den goldenen Augen Respekt ein. Dann wirft sich das muskulöse Tier auf den Rücken. Der Eber will gestreichelt werden. „Fleisch zu essen tut weder uns noch den Tieren oder der Umwelt gut“, sagt Maurer, während er ihm den Bauch krault. „Wir sollten alle weniger davon essen – aber dafür hochqualitatives Bio-Fleisch aus der Region. Dann kann man das Fleischessen auch genießen.“
„Wenn wir unseren Fleischkonsum um zwei Drittel reduzieren, ernähren wir uns nachhaltig und gesund“, bestätigt Isabella Gusenbauer vom FibL. Konsumentinnen und Konsumenten haben Einfluss, können Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben und sich regionale Versorgungssysteme suchen, betont sie. 28 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe Österreichs vermarkten direkt, erklärt Alexandra Frangenheim. Ihre Verteilung bedingt aber, dass viele Wienerinnen und Wiener auf drei Handelskonzerne angewiesen sind, die eine Marktkonzentration von fast 90 Prozent aufweisen. „Diese haben mächtige Strukturen entwickelt. Sie treffen für Erzeuger und Konsumenten Entscheidungen“, so Frangenheim.
Tut die Nähe gut?
Andreas Maurer hat viele Stammkunden. Er ist am letzten Stopp des Hofrundgangs angelangt, steht vor zwei schwarzen Selbstbedienungs-Automaten an den Hoftoren. Hier lagern unter anderem Grammelschmalz und Speck. Sie stammen von den eigenen Schweinen, die aktuell noch im Schlachtraum des Biohof Harbich im niederösterreichischen Aderklaa, 15 Autominuten entfernt, getötet werden. „Vor allem die Eier sind immer sehr schnell vergriffen“, sagt Maurer. Das stimmt auch für diesen Nachmittag. Während er erzählt, kommt eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand vorbei. „Wo sind die Hühner?“, fragt sie. Der Bio-Landwirt deutet auf einen App-gesteuerten, mobilen Hühnerstall in seinem Rücken, der auf einer Wiese steht. Hier leben 220 Hühner, deren Eier in den Kühlschränken von Menschen im nahen Umkreis landen. Bei der Kälte wollen die Tiere nicht ins Freie, erklärt Maurer der Frau. Man merkt: Hier ist Landwirtschaft nah an den Menschen – und das auch wörtlich. Als Andreas Maurer 2019 seinen Schweinestall baute, entstand angrenzend ein Haus mit 62 Wohneinheiten.
Die schwäbisch-hallischen Landsau-Ferkel bleiben nach der Geburt sieben Wochen bei ihrer Mutter.
Diese Nähe bringt auch einige Nachteile mit sich. So ist der Druck auf landwirtschaftliche Flächen im Stadtgebiet sehr hoch, landwirtschaftliche Geräte durch den dichten Stadtverkehr zu manövrieren ist schwierig. „Viele Landwirte profitieren allerdings auch von der Stadtnähe“, sagt Isabella Gusenbauer. Andreas Maurer ist nah an seinen Abnehmern und deren Wünschen. „In letzter Zeit bekommen wir sehr viele Anfragen nach Bio-Masthühnern“, erzählt er. Darum möchte er sich nun ein paar zulegen. Weitere Zukunftspläne beinhalten, Mastschweine vermehrt auf Wiesen zu halten und auf lange Sicht den Bau von einem Verkaufsraum und einem Schlachthaus. Dann würden Schweine nicht mehr nur in der Großstadt Wien geboren – sondern auch dort sterben.