Postwachstumsökonomie

Ein Überlebensprogramm jenseits überkommener Fortschrittsillusionen
Text Niko Paech, Illustration Jörg Schorn

Ehrgeizige Versuche, das moderne Konsum- und Mobilitätssystem durch technologischen Fortschritt zu ökologisieren, schlugen nicht nur fehl, sondern kulminieren in einer zweiten Welle der industriellen Zerstörung, wie beispielsweise die deutsche „Energiewende“ oder das Kaunertal-Projekt eindrucksvoll zeigen. Vermeintlich nachhaltige Innovationen, ganz gleich ob basierend auf Effizienz, Stoffkreisläufen oder erneuerbarer Energie – über mehr als diese Konzepte verfügt die Vision eines „grünen“ Wachstums nicht – lösen kein Umweltproblem, sondern verschieben es lediglich in eine andere physische Dimension. Ein letzter Ausweg bestünde darin, das globalisierte Industriemodell zurückzubauen und eine Umweltbeanspruchung, die mit der irdischen Tragekapazität vereinbar ist, auf circa acht Milliarden Menschen zu verteilen. Für den Klimawandel hieße das, dass jede Person pro Jahr mit etwa einer Tonne an CO2-Äquivalenten auszukommen hätte. Der mitteleuropäische Durchschnitt liegt derzeit bei rund zwölf Tonnen.

Dieses historisch einmalige Großvorhaben wird in der wissenschaftlichen Debatte entlang dreier Szenarien diskutiert: Erstens als Postwachstumsstrategie, die makroökonomisch zu steuern und durch Anreizsysteme sowie politische Rahmensetzungen zu etablieren wäre; zweitens als unvermeidliches Reaktionsmuster auf nicht zu verhindernde Krisen; drittens als Dynamik autonomer Aufbrüche, die sich zunächst in Nischen und Reallaboren bewähren, um anschließend schrittweise von weiteren Teilen der Gesellschaft übernommen zu werden.

Die erste Variante erweist sich als kompatibel mit althergebrachten liberalen, linken und grünen Politikvorstellungen, verinnerlicht jedoch einen naiven Steuerungsoptimismus. Übersehen werden die politischen Konsequenzen, die sich ergeben, wenn die Korrekturen am Stoffwechsel der Ökosphäre entgegen aller „Green New Deal“-Beschwörungen nicht in einen grünen Technologie-Park ausgelagert werden können. Das stattdessen notwendige Reduktionsprogramm dürfte sich auf die Prosperität der gesellschaftlichen Mehrheit kaum anders auswirken als in einer Form, die allgemein unter Wirtschaftskrise verstanden wird. Jede demokratische Regierung, die sich darauf einließe, würde politischen Selbstmord begehen.

Schließlich hat der globalisierte und digitale Wohlstand den Punkt überschritten, ab dem angesichts der mitgewachsenen Verkümmerung aller eigenständigen Versorgungskompetenzen und hoher Konsumabhängigkeit die Angst vor einem Einkommensverlust politisch mächtiger ist als die Angst vor dem Klimachaos. Aber letzteres würde infolge seines somit (politisch) ungebremsten Verlaufs früher oder später auch die ökonomischen Grundlagen kollabieren lassen, was sich dramatischer auswirken dürfte als ein präventives, sozialpolitisch abgefedertes Rückbauprogramm. Über den Umweg einer sich verschärfenden Umweltkrise wird also genau das potenziert, was durch ein krampfhaftes Festhalten am Status Quo hätte verhindert werden sollen. Sich dieser paradoxen Situation fern aller bisherigen Fortschrittsillusionen zu stellen, führt zu zwei Konsequenzen:

Einerseits wird deutlich, dass es Zeitverschwendung ist, auf großangelegte Lösungen zu setzen, die ein politisches oder technologisches Wunder voraussetzen. Darüber hinaus bildet sich dadurch lediglich ein Alibi für die Abwälzung der Verantwortung auf handlungsunfähige Regierungsinstanzen. Helfen können nur unilaterale Aus- und Aufbrüche, die zunächst von Minderheiten und funktionalen Eliten unter dem Radar der Politik praktiziert werden, beispielgebend sind und sich durch Nachahmung dezentral ausbreiten. Widerstandsnester gegen den Wachstumswahn entstehen am ehesten durch Handlungen, die sich direkt und unbedingt umsetzen lassen, also weder von Geld, Technologie oder politischer Macht abhängen. Diese basieren auf kreativer Unterlassung, die bis zum Boykott reicht.

Andererseits zeigt sich, dass zielführender Wandel nur konkret an der Lebensführung ansetzen kann, damit Menschen befähigt werden, außerhalb der Komfortzone souverän und in Würde zu existieren. Dazu zählt, sich von einem Überfluss zu befreien, der finanzielle Abhängigkeiten erzeugt, die absehbar nicht mehr erfüllbar sind. Dieser Ballastabwurf (Suffizienz) entspricht keinem Verzicht, denn angesichts einer Informations- und Optionenüberflutung, die niemand mehr verarbeiten kann, werden Überschaubarkeit und Entschleunigung zum psychischen Selbstschutz. Eine sinnvolle Suffizienz-Maxime besteht darin, Grundbedürfnisse von ökologisch ruinösem Luxus zu trennen. Letzteren auszumustern, führt zu einer gerechteren Güterverteilung und mutet niemandem unakzeptable Verluste zu.

Weiterhin wären eigenständige Versorgungsformen einzuüben. Verbraucher könnten sich die Kompetenz (wieder) aneignen, manche Bedürfnisse manuell und selbsttätig jenseits kommerzieller Märkte zu befriedigen. Gemeinschaftsgärten, lokale Tauschsysteme, Netzwerke der Nachbarschaftshilfe, Verschenkmärkte, Einrichtungen zur Gemeinschaftsnutzung von Geräten und Werkzeugen, Repaircafés, kommunale Ressourcenzentren, solidarische Landwirtschaften, lokale Energiegenossenschaften, Dorfläden, offene Werkstätten etc. würden den Bedarf an Technik, Kapital, Transportwegen senken. Wenn Produkte länger genutzt, eigenständig instand gehalten, repariert, gepflegt und im Bedarfsfall möglichst gebraucht erworben werden, sinken die Abhängigkeit von industrieller Versorgung und das erforderliche Mindesteinkommen, das nötig ist, um ein maßvolles Dasein bei hoher Lebensqualität zu finanzieren.

Subsistenz ist zeitintensiv. Aber da sie neben der Suffizienz den Bedarf an Industrieproduktion prägnant senkt, kann das somit ebenfalls verringerte Quantum an erforderlicher Lohnarbeit dergestalt verteilt werden, dass Vollbeschäftigung mit durchschnittlich 20 Stunden Wochenarbeitszeit einherginge. So entstünden die zur Eigenversorgung nötigen Zeitressourcen. Die Güternachfrage, die nach Ausschöpfung aller Suffizienz- und Subsistenzpotenziale verbleibt, könnte teilweise auf regionalen Märkten befriedigt werden. Eine kleinräumige, handwerklich orientierte Ökonomie würde neben ökologischem Landbau und innovativer Werkstattfertigung professionelle Sharing- und Reparatur-Services umfassen. Der Rest an Industrieproduktion würde sich darauf beschränken, einen konstanten und verringerten Bestand an materiellen Gütern zu erhalten, also nur zu ersetzen, was durch sinnvolle Nutzungsdauerverlängerung nicht mehr erhalten werden kann. Zudem würde sich die Produktion an einem reparablen, physisch und ästhetisch langlebigen Design orientieren. Das Überleben der Zivilisation hängt weniger an technologischen oder politischen Fortschritten als an individuellen Fähigkeiten, mit bescheidenen Möglichkeiten ein Leben in Würde zu organisieren. Die gute Nachricht: Damit kann jeder und jede überall sofort beginnen. Dies entspräche keinem Verzicht, sondern einer Immunisierung gegen die absehbaren Krisenfolgen und eine psychische Erschöpfung, die mit dem Wohlstand einhergeht. 


Niko Paech (geboren 1960 in Schüttorf) ist ein deutscher Volkswirt. Zu seinen wichtigsten Forschungsschwerpunkten zählen Postwachstumsökonomik, Klimaschutz, Konsumforschung, Ökologische Ökonomik, Sustainable Supply Chain Managment, Reparaturkulturen, Nachhaltigkeitskommunikation, Innovationsmanagement und soziale Diffusion. Niko Paech initiierte und leitete diverse Forschungsprojekte. Er engagiert sich in nachhaltigkeitsorientierten Netzwerken, Initiativen und Genossenschaften als Moderator, Berater oder Aktivist


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