Räume voller Poesie und Geschichten

Von Wolfgang Paterno
Daniela Egger und Frauke Kühn von literatur:vorarlberg netzwerk über Bücher und den Bodensee, Gänsehaut und die junge Generation, Leuchttürme und das zukünftige Literaturhaus in Hohenems.
In der Corona-Pandemie verzeichneten viele Streaming-Dienste Rekordzuwächse. Wurde auch mehr gelesen?
Frauke Kühn: Das Virus sorgt dafür, dass wir gezwungenermaßen viel Zeit zu Hause verbringen. Am Leseverhalten hat sich deshalb aber nicht grundlegend etwas verändert. Menschen an das Lesen heranzuführen, ist ein Prozess, der mit dem ersten Lebenstag einsetzt. Lesen fängt in der Familie an, bezieht den Kindergarten und die Schulen bis zur Oberstufe ein.
Daniela Egger: Mein 13-jähriger Sohn hatte noch nie so viel Zeit zum Lesen. Das Suchen und Finden von Literatur, die einen anspricht, sind enorm wichtige Prozesse. Neben der Schule sollte genügend Zeit sein, sich in aller Ruhe seine eigene Bibliothek zusammenzustellen. Das ist aber im Normalbetrieb der Schule fast nicht möglich.
Frauke Kühn: Die meisten Literaturveranstaltungen für kommenden Herbst wurden coronabedingt abgesagt. Und das nicht nur in einer blühenden Literaturlandschaft wie Vorarlberg, die auch im Bereich der Literaturvermittlung in Zusammenarbeit mit den Lehrkräften an Schulen sehr aktiv ist. Sollte uns die Pandemie noch länger begleiten, müssen wir auch in den Schulen weiterhin besonderen Wert auf kulturelle Bildung legen, die längst fixer Bestandteil der anerkannten Kanonfächer sein sollte – auch unter Corona-Bedingungen!
Ist Literatur schwieriger zu vermitteln als, sagen wir, das Phänomen Bodensee?
Frauke Kühn: Literatur muss zuerst durch den Kopf, bevor sie ins Herz gelangt. Beim Lesen schaltet sich die kognitive Ebene vor das Gefühl. Auf Musik oder auch schöne Landschaften reagieren viele körperlich: Es erklingt der erste Takt eines Lieblingslieds, und man bekommt Gänsehaut. Wörter und Sätze aus Büchern treffen uns meist nicht so unmittelbar und direkt, dazu benötigt es eben Leseerfahrung.
Daniela Egger: Das sind zwei Dinge, die nicht in Konkurrenz stehen. Bodensee und Buch lassen sich durchaus kombinieren, lesend am Ufer des Sees zu sitzen ist ja kein unbekanntes Bild.
Vorarlberg ist ein Land bedeutender Literaturtradition. James Joyce und Ernest Hemingway waren hier, Lustenau kommt im Werk Peter Handkes vor. Werden Sie sich auf dieses Erbe stürzen?
Daniela Egger: Wir arbeiten bevorzugt mit Schwerpunkten, nicht mit Traditionen. Projekte, mit denen wir neue Literatur vermitteln, haben für uns denselben Stellenwert wie Herr Joyce, der in Vorarlberg seine Spuren hinterlassen hat. Es geht um die Kunst der Verschränkung, der Begegnung.
Frauke Kühn: Die regionale Literaturgeschichte wird von zahlreichen Akteuren der Szene gut ausgeleuchtet und präsentiert. Deren magnetische Wirkung ist unleugbar. Wir wollen die Literatur vor und hinter diesen Wegmarken neu denken, Vorhandenes in aktuelle und zukunftsweisende Kontexte überführen.
Funktioniert Literaturvermittlung im 21. Jahrhundert ganz anders als noch im 20. Jahrhundert?
Frauke Kühn: Letzten Endes geht es immer darum, das Verständnis und die Liebe zu Wort und Sprache zu wecken. Die junge Generation hat keinerlei Berührungsängste mit der digitalen Welt. Zeitgemäße Literaturvermittlung muss genau da ansetzen, kann sich darauf aber auch nicht ausruhen. Wir wollen als zukünftiges Vorarlberger Literaturhaus eine Bühne bieten, analog und digital.
Daniela Egger: Wichtig ist die Fülle an unterschiedlichen Angeboten, die unter einem Dach Platz finden sollen.
Der Literaturnobelpreis geht in ferner Zukunft also nach Vorarlberg?
Frauke Kühn: Guten Grund gäbe es! Aber auch unabhängig vom möglichen Nobelpreis ist gerade Hohenems aus unterschiedlichen Gründen ein wesentlicher Literaturort innerhalb Vorarlbergs: Rudolf von Ems gilt als einer der gelehrtesten Autoren des Mittelalters; dann der Fund der zwei Handschriften des Nibelungenlieds oder der 1829 in Hohenems geborene August Brentano, dessen Buchhandlung „Brentano‘s“ bis 2011 zu den führenden in New York zählte. Dazu sind Namen wie jene von Jean Améry und Stefan Zweig mit der Stadt verwoben. Literatur ist zweifellos ein beeindruckendes Kapitel der Stadtgeschichte.
Das Literaturhaus wird in der ehemaligen Villa Rosenthal untergebracht sein. Wie würden Sie das Bauwerk in Hohenems charakterisieren?
Daniela Egger: Dass diese Villa ein neues Leben erhält – und nicht einer der üblichen Wohnanlagen Platz machen muss –, ist ein Glücksfall. Für uns, sicher auch für das Land. Derzeit beginnt eine vorsichtige Sanierung, und mit Projektleiter Markus Schadenbauer darf man sicher sein, dass die Schönheit des Hauses nach Möglichkeit wieder sichtbar gemacht werden wird. Welche Bestimmung könnte schöner sein, als der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellte Räume voller Poesie und Geschichten?
Frauke Kühn: Auf den ersten Blick scheint es merkwürdig, in Vorarlberg mit seinen vielen literaturhistorischen Hotspots ausgerechnet eine solche Einrichtung in einem Bauwerk zu eröffnen, das keinerlei Verbindung zum Thema hat. Das gewährt zugleich Freiheiten: Wir müssen dem Haus keine Rechenschaft in puncto berühmte Namen und eherne Traditionen ablegen. Wenngleich die Villa über die Menschen, die in ihr gelebt haben, ihre eigene Geschichte trägt. Eine Geschichte, die wir nicht übergehen wollen.
Wie entgeht man als regionales Literaturhaus der Gefahr des Provinzialismus?
Frauke Kühn: Der Begriff „Provinz“ lässt sich ja auf die Bezeichnung „am Rand“ zurückführen. Von daher mag er auf den ersten Blick auf Vorarlberg passend scheinen. Ich erlebe diese Region jedoch als sehr vital, auf lebendigen Austausch ausgerichtet, auch über Grenzen hinweg. Deshalb ist es uns ein Anliegen, die Vorarlberger Autorenschaft bewusst in kooperative Zusammenhänge einzubinden. Wir bitten nicht nur Lokalgrößen auf die Bühne, sondern suchen auch den Austausch mit Autorinnen und Autoren aus dem Ausland. In Zusammenarbeit mit dem Land Vorarlberg und der Stadt Hohenems planen wir ein kooperatives, vernetzendes Literaturhaus, das jungen Talenten ebenso Raum anbietet wie renommierten Persönlichkeiten.
Das Felder-Archiv versteht sich als zentrale Einrichtung für Literatur in Vorarlberg. Müssen sich die Felder-Forscher fürchten?
Frauke Kühn: Das ist keine Frage der Furcht. Als Netzwerkerinnen sind wir es gewohnt, in Interessengemeinschaften zu denken und zu arbeiten. Wir wollen keinen Leuchtturm platzieren, der sich um sich selbst dreht. Es geht vielmehr darum, nachhaltige Strukturen zu schaffen, von denen alle profitieren. Das gute Miteinander steht im Mittelpunkt. Nicht das Gegeneinander.
Bleibt Ihnen überhaupt noch Zeit zum Lesen? Welche aktuellen Bücher empfehlen Sie?
Daniela Egger: Derzeit liegen etwa sieben Bücher angelesen auf dem Tisch, zum Beispiel „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von Yuval Noah Harari. Keine allzu vergnügliche Lektüre, aber ein außerordentlich wichtiges Buch. Ich lese täglich, abends, auch wenn ich hundemüde im Bett liege. Im Idealfall beginnt der Tag mit einem Buch, bevor ich meine E-Mails abrufe.
Frauke Kühn: Ich lese gerade „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky. Ein wunderbarer Roman über das Erzählen selbst. Adeline Dieudonnés Debütroman „Das wirkliche Leben“ nehme ich mir im Urlaub vor. Lesen muss sein.
Daniela Egger, 52, ist Autorin, Kuratorin,
Projektmanagerin und Obfrau des literatur:vorarlberg netzwerk;
die Kulturmanagerin und Literaturvermittlerin
Frauke Kühn, 47, steht der Initiative als Geschäftsführerin vor. Die geplante Eröffnung des Literaturhaus in Hohenems: Frühjahr 2023. Als Trägerverein der Einrichtung fungiert das literatur:vorarlberg netzwerk.