REINKARNATION DER DINGE

Mit dem Cradle to Cradle-Designkonzept entwickelten Michael Braungart und William McDonough bereits Ende der 1990er Jahre ihre revolutionären Ideen für ein radikales Umdenken im Bereich Nachhaltigkeitsstrategien. Und heute? Wie bewährt sich das Konzept in der Praxis? Welche Perspektiven eröffnen sich daraus derzeit für Unternehmen, die Umweltschutz gründlich angehen möchten? Und inwiefern
profitieren die Konsumenten davon?
Jutta Nachtwey

Der Begriff Circular Economy klingt gut. Er suggeriert die sinnvolle Wiederverwendung von Materialien und gilt als Segen für die Umwelt. Also sammeln wir emsig Altpapier und kaufen Recycling-Klopapier – überzeugt davon, der Natur damit nur Gutes zu tun. Der Chemiker und Verfahrenstechniker Michael Braungart stellt jedoch klar: „Das Toilettenpapier ist so giftig, dass man es nicht auf dem Acker liegen lassen sollte.“ Und auch der Pizza-Karton vom Lieferdienst hat es in sich – und nicht nur in sich: „Mit einer Pizza essen Sie etwa ein Drittel der Druckchemikalien einer Visitenkarte“, so Braungart. Da weicht das gute Gewissen der Gewissheit über die eigene Gutgläubigkeit.
Braungart widerlegt mit Leichtigkeit die Illusionen, welche die konventionelle Kreislaufwirtschaft oftmals erzeugt. Er macht deutlich, dass die Materialien eben nicht optimal weitergenutzt, sondern downgecycelt werden. Demnach handelt es sich also nicht um echte Kreisläufe, sondern um lineare Prozesse, an deren Ende unverwertbarer Müll übrig bleibt. Der Lebensweg der Materialien führt quasi „von der Wiege bis zur Bahre“.
Wie sich diese Misere überwinden lässt, zeigten Braungart und McDonough mit ihrem genialen Gegenentwurf namens Cradle to Cradle® („von der Wiege bis zur Wiege“; kurz: C2C). Die Materialien zirkulieren hier in einem biologischen Kreislauf, der Biosphäre, und einem technischen Kreislauf, der Technosphäre. Das Konzept der Pioniere setzt auf Sonnenenergie und schafft Müll gänzlich ab. Es zielt nicht auf Reduzierung von Umweltschäden, sondern auf positive Effekte für die Natur.
Auf der einen Seite geht es dabei um Verbrauchsgüter, die sich abnutzen und dabei Partikel in die Umwelt absondern – etwa Reifen, Schuhsohlen oder Seife. Sie müssen für die Biosphäre gestaltet sein: biologisch abbaubar und gesund für Mensch und Umwelt. So schaden sie der Natur nicht mehr, sondern bieten ihr sogar Nährstoffe. Auf der anderen Seite geht es um Gebrauchsgüter, die sich fast gar nicht abnutzen. Sie müssen so konzipiert sein, das ihre Materialien ohne Qualitätsverlust in der Technosphäre zirkulieren können. Bei komplexen Produkten, ob Bürostuhl oder Staubsauger, muss das Design die künftige sortenreine Trennbarkeit und Transformabilität der Materialien ermöglichen.
Ein anschauliches Beispiel sind jedoch auch Glasmehrwegflaschen, die nach häufiger Nutzung beim Einschmelzen nicht downgecycelt werden, sondern sich zu immer neuen, gleichwertigen Flaschen verarbeiten lassen – im Gegensatz zu PET-Flaschen, aus denen bisher meist nur minderwertigeres Granulat entsteht. Daraus werden zum Beispiel Spielzeuge produziert, die irgendwann im Müll landen, oder Fleecepullis, die beim Waschen Mikroplastik ins Wasser absondern. Der Einsatz von Glasmehrwegflaschen, die im geschlossenen technischen Kreislauf zirkulieren, bietet also in vielerlei Hinsicht deutliche Vorteile für die Umwelt.

Braungart und McDonough haben allerdings nicht nur das Wohl der Natur im Blick, sondern auch das der Wirtschaft. Sie treten für ein Geschäftsmodell ein, bei dem die Unternehmen nicht mehr Produkte, sondern nur deren Leistungen verkaufen – statt der Waschmaschine etwa die Waschgänge. Die Maschine steht zwar wie bisher beim Kunden, gehört jedoch dem Hersteller. Während er bisher zwecks niedriger Produktpreise Billigmaterialien einsetzte, kann er nun hochwertige, voneinander trennbare Stoffe verwenden und sie in Zukunft weiter nutzen.
Darüber hinaus hatten Braungart und McDonough auch das Wohl der Konsumenten im Blick. Weil C2C-Produkte der Umwelt nicht schaden, kann man ohne schlechtes Gewissen nach Herzenslust konsumieren, was der Wirtschaft wiederum zugute kommt. Angesichts all dieser Vorteile – wieso sind nicht mehr Firmen schleunigst umgestiegen? Vermutlich weil es bei C2C nur ganz oder gar nicht gibt. Statt Produktionsketten komplett umzukrempeln und zertifizieren zu lassen, haben viele lieber nur ein winziges Detail verändert und umso lauter Eigenlob verbreitet.
Der fortschreitende Klimawandel zwingt Unternehmen heute jedoch, den Umweltschutz zu intensivieren. Da auch die Ressourcen immer knapper und teurer werden, können sich Firmen die Verschwendung wertvoller Stoffe immer weniger leisten. Außerdem sind die Konsumenten kritischer geworden und lassen sich mit Greenwashing nicht mehr abspeisen. Hinzu kommt, dass die junge Generation materiellen Besitz eher als Ballast betrachtet und deshalb eine Kultur des Teilens favorisiert. Insofern fällt das C2C-Konzept heute auf fruchtbareren Boden.
Abgesehen von diesen Entwicklungen gibt es nun viel mehr positive Beispiele, die zeigen, dass sich das Konzept auch im größeren Maßstab in der Praxis bewährt: Verschiedene C2C-Modellkommunen weisen hier den Weg. Zudem schließen sich immer mehr Unternehmen in Kooperationssystemen zum „Material Pooling“ zusammen. Wer sich für C2C entscheidet, muss also nicht mehr alles alleine aufbauen, sondern kann von den Erfahrungen anderer profitieren.

Um die Etablierung und Verbreitung von C2C in der Immobilienbranche und Bauwirtschaft voranzutreiben, hat sich Braungart 2019 mit einem branchenspezifischen Beratungsunternehmen zusammengetan und die Firma EPEA GmbH – Part of Drees & Sommer gegründet. Auch die Cradle to Cradle® NGO mit Sitz in Berlin setzt sich für die Verbreitung des Ansatzes ein. Neben einem jährlichen Kongress eröffnete der Verein im September 2019 das C2C-Lab in einem Ost-berliner Plattenbau – unter Beteiligung zahlreicher Firmen nach C2C-Kriterien saniert. Wie das Konzept in der Praxis funktioniert, kann man dort mit allen Sinnen erfahren.
Und in Österreich? Zahlreiche Unternehmen nutzen hier C2C-Zertifizierungen bereits als Wettbewerbsvorteil, etwa der Textilienhersteller Wolford, die Druckerei Gugler, die Wasserlackfabrik Adler oder der Holzhaus-Spezialist Thoma. Letzterer stellt aus nachhaltig erzeugtem heimischem Nadelholz „Holz100“ her – vollkommen rein, frei von Holzschutzmitteln und Leim, nur durch Holzdübel verbunden. Daraus entstand etwa ein fünfgeschossiger Holzbau, der ganz ohne Heizung, Kamin oder Solaranlage auskommt – innen wird’s nie kühler als 18º C! Na also: Trotz der anfangs erwähnten CMYK-Pizza – es gibt Grund zur Hoffnung auf wahren Wandel!.


Prof. Dr. Michael Braungart ist Gründer von EPEA Internationale Umweltforschung in Hamburg, Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter von McDonough Braungart Design Chemistry (MBDC) in Charlottesville, Virginia (USA) sowie Gründer und wissenschaftlicher Leiter des
Hamburger Umweltinstituts (HUI)

C2C-Kritiker hatten immer ein Problem damit, dass Ihr Konzept der Öko-Askese eine Absage erteilt. Hält man Ihnen dies auch heute noch vor?
Ich muss immer noch erklären, warum Vermeiden, Sparen, Verzichten nicht die Lösung sein kann. Wenn man den Menschen sagt, sie müssen ihren ökologischen Fußabdruck minimieren, dann heißt das, sie wären besser gar nicht geboren. Auch die Forderung nach klimaneutralem Verhalten ist absurd. Kein Baum ist doch klimaneutral, aber die Leute plappern diesen Blödsinn einfach nach. Ich bin stattdessen für eine Kultur der Großzügigkeit – mit C2C-Produkten ist Konsum kein Problem mehr. Viele Leute denken bei Nachhaltigkeit immer noch an Langlebigkeit. In der digitalen Welt brauche ich stattdessen jedoch definierte Nutzungszeiten, damit die Unternehmen wissen, wann sie das Material wieder einsetzen können. Bisher mangelt es vor allem an diesem digitalen Denken.
Macht es Sinn, das Konzept durch staatliche Förderung voranzutreiben?
Auf keinen Fall. Man sollte nur sicherstellen, dass nicht wie bisher der gesamte Gewinn an die Firmen, das gesamte Risiko aber an die Gesellschaft geht. Das würde völlig reichen. Ansonsten wird die Marktwirtschaft für die Verbreitung von C2C sorgen. Wenn eine Firma heute einen neuen Ventilator herstellt, taucht drei Monate später eine billigere Kopie auf dem Markt in Shanghai auf. Die digitale Gesellschaft muss also dringend über andere Geschäftsmodelle nachdenken. Man braucht ja eigentlich nicht den Ventilator selbst, sondern nur die gequirlte Luft. Wir sind noch ganz am Anfang dieses Umdenkens vom Produkt zur Dienstleistung, aber eine Industriebranche nach der anderen begreift, welche Perspektiven sich daraus eröffnen.
Verzweifeln Sie manchmal an der Zähigkeit des wirtschaftlichen Wandels?
Natürlich ist es unfassbar, dass wir weiterhin Ressourcen verschwenden: Ein Auto, in dem viele seltene Buntmetalle stecken, downcy-celn wir absurderweise zu Baustahl! Und der Ikea-Katalog enthält statt 90 giftiger Stoffe noch immer 50 giftige Stoffe. Aber insgesamt geht es schneller voran, als ich dachte. Es gibt bereits 11.000 C2C-Produkte, ganze Gemeinden, die sich an diesem Konzept orientieren, und fast jede Designschule lehrt heute diesen Ansatz. Ich bin also optimistisch: Wenn wir diese Geschwindigkeit beibehalten, könnte die Welt vor 2050 bereits Cradle to Cradle® sein!

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