Reiselust ohne Frust

Hotel La Tigra, Costa Rica. Foto travel-to-nature

Muss uns wirklich das schlechte Gewissen plagen, wenn wir in den Urlaub fliegen? Reiseveranstalter wie „travel-to-nature“ zeigen: Nein, umweltfreundlicher Tourismus, der unterstützt und nicht ausbeutet, ist möglich. Der Umweltökonom und Mitbegründer Rainer Stoll im Gespräch.
Von Mirela Jasic

Nichts darf man mehr: Fliegen, Auto fahren oder gar erst Kreuzfahrten unternehmen. Reisen ist in Zeiten der Klimakrise, des Plastikmülls und des Artensterbens eigentlich ein No-Go. Billige Pauschalreisen und der damit einhergehende Massentourismus hinterlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck. Doch die Faszination, das Erlebnis und die Neugierde für die Ferne sind so alt wie der Mensch selbst und die Lust auf das Reisen ist nicht zuletzt seit der Pandemie um ein Vielfaches gestiegen. Wie lässt sich dieses Paradoxon mit dem Selbstbild eines reflektierten Menschen, der ökologisches Bewusstsein in sich trägt, und dem Anliegen um soziale Gerechtigkeit vereinbaren? Ist verantwortungsvolles Reisen überhaupt noch möglich?

Einer, der uns diese Fragen beantworten kann, ist Rainer Stoll. Er ist Umweltökonom sowie Gründer und Geschäftsführer des nachhaltig agierenden Reiseveranstalters travel-to-nature, ein Pionier des nachhaltigen Tourismus und ein leidenschaftlicher Reisender mit Verantwortungsbewusstsein. Zuletzt konnte er sich mit seinem Familienunternehmen als Finalist im Wettbewerb um den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2022 im Bereich „Biodiversität“ durchsetzen.

Rainer Stoll, Mitgründer von travel-to-nature

Foto travel-to-nature

1994 steckte umweltbewusstes Reisen noch in den Kinderschuhen. Sie gehörten zu dieser Zeit zu den Pionieren, die dazu beigetragen haben, das Thema gesellschaftsfähig zu machen. Was hat Sie angetrieben, sich damit zu beschäftigen?
Rainer Stoll: 1994 war ich Mitarbeiter bei Waschbär-Versand, einem Öko-Versandhaus, dessen Versandkatalog eine Auflage von 600.000 Ausgaben hatte und damit wahnsinnig viel Papier verbraucht hat. Wir haben überlegt, wie wir das Papier wieder nachwachsen lassen können und sind so auf Costa Rica gekommen, wo wir dann schließlich 100.000 Bäume pro Jahr angepflanzt haben.
Begeistert von dem Land und seiner Natur kam die Idee auf, ein Angebot für eine Reise nach Costa Rica zu schaffen, in dem sich Interessierte vor Ort von dem Projekt überzeugen konnten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Erfahrung im Tourismus und mit der Führung von Reisegruppen, habe aber trotzdem die Projektorganisation übernommen. Paul Valenciano – ein Tico, der damals vor Ort in Costa Rica damit beauftragt wurde, die Aufforstungsarbeiten zu übernehmen – und ich haben so die erste Reisegruppe noch im gleichen Jahr durch das Land geführt. Das war der Beginn von Waschbär-Reisen. Aus Waschbär-Reisen ist travel-to-nature geworden, das später um die Reiseveranstalter „birdingtours“ mit Fokus auf Vogelbeobachtungsreisen und „For Family“ Reisen, das auf die Bedürfnisse von Familien ausgerichtet ist, erweitert wurde.

Mit Ihrem Projekt „La Tigra“ verfolgen Sie die Vision, Nachhaltigkeit und Tourismus in Einklang zu bringen. Lässt sich diese Balance verwirklichen?
Mit der „La Tigra Rainforest Lodge“ und dem „Reserva Bosque La Tigra“ haben wir gemeinsam mit einheimischen Naturschützern etwas Außergewöhnliches geschaffen, das es so noch nicht gab: Wir entwickeln aus dem Tourismus eine ganze Region. Aus einer Kuhweide wird wieder ein Stück Regenwald, die Bewohner haben Einnahmen durch Übernachtungsgäste, aus Wilderern werden Reiseleiter und Schulklassen werden in Unterrichtsräumen vor Ort vom Reichtum einer vielfältigen Natur begeistert.

Und auch bei diesem Projekt werden wieder Bäume gepflanzt.
Ja, für jeden Gast, der mit „travel-to-nature“ reist, wird entweder ein Setzling von der Schuklasse in La Tigra gepflanzt oder er setzt ihn vor Ort selbst. Um zu garantieren, dass diese Bäume nicht wieder abgeholzt werden, hat „travel-to-nature“ die Fläche gekauft. Diese jungen Bäume sind ausschließlich einheimisch und teilweise sogar vom Aussterben bedroht. Sie werden drei Jahre lang gepflegt und dann sich selbst überlassen, sodass der Regenwald ganz eigenständig wachsen kann. Das ist entsprechend teuer und kostet 25 Euro pro Baum, weil darin ein ganzes Paket enthalten ist. Da sind Grund, Setzling und drei Jahre Pflege inkludiert. Wir haben sogar eine eigene Regenwaldschule ins Leben gerufen, damit die Kinder in der Region lernen, wie wichtig der Regenwald und die Natur sind. Es werden Ausbildungen für Einheimische angeboten, die Wilderer zu Reiseguides umschulen und wir unterstützen Start-ups bei lokalen Naturschutzprojekten. An diesem Baum hängt also ein ganzer gesellschaftlicher Transformationsprozess. Das ist entsprechend teuer und da ist es mit einem Euro pro Baum nicht getan, so wie es viele andere anbieten. Es geht eben nicht nur darum, einen Baum zu pflanzen, sondern es ist viel mehr als das.

Viele Reiseanbieter werben mit ökologischem Engagement – aber wie erkennt man seriöse Unternehmen und wie findet man das beste Angebot für die eigenen Wünsche?
Das ist in der Tat gar nicht so einfach. Wir lösen das nicht nur damit, dass sich unsere Gäste vor Ort von den Projekten überzeugen können, sondern auch mit völliger Transparenz. Zum Beispiel lassen sich die gepflanzten Bäume via GPS-Daten über eine Blockchain-Technologie, dem sogenannten Treetracker, nachverfolgen. So kann man sich den eigenen Baum jederzeit anschauen. Das Thema Kompensation ist jedoch hochkomplex, weshalb uns unser Zugang über Offenheit und Vertrauen in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist.

Im öffentlichen Diskurs wird meistens über Klimakompensation gesprochen, wenn über nachhaltiges Reisen geredet wird. Sie haben aber bei „travel-to-nature“ den Fokus auf Artenschutz gelegt. Warum das?
Klimaschutz ist „wie wir leben“ und Artenschutz ist, „ob wir überhaupt leben“. Und unser Fokus liegt auf Artenschutz, weil wir fest davon überzeugt sind, dass das Thema in Zukunft noch wichtiger sein wird als Klimaschutz. Das Thema Artenschutz wird oft vom Thema Klimaschutz in den Schatten gestellt, dabei spielen sich in diesem Bereich große Dramen ab. Der Mensch muss wirklich zusehen, dass er als Teil der Natur sie nicht komplett zerstört.

Wie drastisch kann man sich die Situation in der Tierwelt vorstellen?
Ganz stark betroffen sind zum Beispiel die Vögel der Offenlandschaft, die durch die Intensivierung der Landwirtschaft, den Einsatz von Pestiziden und den Anbau von Monokulturen stark tangiert sind. Beim Rebhuhn gibt es einen Rückgang von 90 Prozent! Auch das Braunkehlchen ist vom Vogelsterben stark betroffen. Es gibt aber auch Amphibienarten, die komplett absterben, weil ihr Lebensraum verschwindet und es schlicht und einfach zu trocken ist. Auch da gibt es teilweise einen Rückgang von 90 bis 100 Prozent – und wir wissen noch gar nicht, wofür die Tiere gut sind.
Mao Tse-tung ließ einmal die Spatzen ausrotten, weil diese die ganzen Vorräte aufgefressen haben. Als Folge gab es 20 Millionen Tote, weil die Heuschrecken, die die Vögel nicht essen konnten, die Ernten weggefuttert haben. Wir wissen also nicht, was es für Auswirkungen hat, wenn man die Natur so aus dem Gleichgewicht bringt. Man zieht ein Stäbchen nach dem anderen heraus und irgendwann bricht das ganze Gerüst zusammen.

Die Kettenreaktion, die durch das Aussterben einer Art ausgelöst wird, ist ja oft auch nicht unmittelbar spürbar. Was braucht es Ihrer Meinung nach, damit sich etwas ändert?
Noch spüren wir viele Folgen nicht, aber der Mensch braucht oft eine Riesenkatastrophe, bevor er aktiv etwas ändert. Angenommen, wir ernähren uns von Fischen, die noch keine Nachkommen haben, dann kann das Kartenhaus auch hier schnell zusammenbrechen und es gibt bald keine Fische mehr oder nur ganz wenige – dabei leben 30 Prozent der Menschheit vom Fischfang. Das kann schnell zu einer Katastrophe führen. Da müssen wir unbedingt rechtzeitig darauf reagieren.

Und was kann der Tourismus konkret dazu beitragen?
Im Tourismus haben wir eine Hebel-Funktion, weil die Menschen dadurch das Leben vor Ort sehen und unmittelbar erleben können. Das Reisen macht greifbar, was tatsächlich unternommen werden muss, um die Situation zu verbessern. Es ist uns wichtig zu zeigen, dass jeder Mensch etwas machen kann – wirklich jeder.

Reisen hat viel mit „über den Tellerrand“ blicken und damit den eigenen Horizont erweitern zu tun. Wie wichtig ist Ihnen dieser Bildungsanspruch bei „travel-to-nature“?
Die Reisenden bekommen bestimmt viel mit – dafür haben wir geschulte Reiseleiter vor Ort. Es ist uns aber auch wichtig, dass die Menschen die Natur genießen können und wir haben den Anspruch, das Wissen rund um Natur- und Artenschutz nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zu vermitteln, sondern erlebbar zu machen.

Nachhaltigkeit ist kein Thema mehr, mit dem sich nur ein fachkundiges Publikum beschäftigt, sondern inzwischen eine Frage des Überlebens der Menschheit – und damit in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wie hat sich Reisen in den vergangenen 30 Jahren verändert?
Es hat sich sehr stark verändert. Es gibt inzwischen so viele Plattformen, wie zum Beispiel booking.com, airbnb.com usw. Die Digitalisierung hat wesentlich zur Individualisierung von Angeboten geführt. Inzwischen kommen zum Beispiel nur noch 20 Prozent unserer La Tigra Lodge-Gäste über „travel-to-nature“ und der Rest bucht individuell.

Hat sich nach der Pandemie etwas verändert?
Nach Corona ist spürbar, dass die Menschen ihre Reiseerlebnisse nachholen wollen. Gerade das Thema Natur ist in Europa in aller Munde.

Bei allem Gesagten: Darf man Ihrer Meinung nach heute noch Reisen? Wie lässt sich die Lust nach der Ferne mit dem sozialen Gewissen vereinbaren?
Das kann ich aus meinem persönlichen Standpunkt beantworten, weil ich ja auch so ein „Öko“ bin, der eher nicht reist (lacht). Reisen ist immer noch etwas, das verbindet und damit ein starkes Bedürfnis des Menschen erfüllt. Nachhaltiges Reisen kann zudem einen wichtigen Beitrag zum Erhalt des Artenschutzes leisten. Ein Beispiel sind die Nationalparks der Gorillas in Uganda. Jeder Gast zahlt 700 Dollar, um einen Gorilla zu sehen. Damit haben die Gorillas aber für die Einheimischen und auch für die Politiker einen Wert – ohne Tourismus wären diese Tiere schon längst ausgerottet. Es geht leider vielen Tieren so und als Artenschützer ist der Tourismus einer der wichtigsten Faktoren, um solche Nationalparks zu erhalten. Aber auch im sozialen Kontext spielt er eine große Rolle: zum Beispiel, um der einheimischen Bevölkerung ein alternatives Einkommen zu verschaffen. Viele Menschen sind finanziell auf den Tourismus angewiesen, insbesondere Frauen. Werden die Menschen fair bezahlt, gut ausgebildet und richtig ausgerüstet, dann ist Tourismus etwas Positives. Aber im Idealfall sollten die Menschen lieber alle zwei bis drei Jahre wegfahren, dafür gleich drei bis vier Wochen, anstatt viele Kurzurlaube zu machen. Auch Kreuzfahrten sind schrecklich für die Umwelt.

Welche Bedeutung hat der soziale Aspekt für die Nachhaltigkeit?

Eine wesentliche. Nachhaltigkeit heißt im Grunde, dass man den zukünftigen Generationen eine lebenswerte Umwelt hinterlassen will. Dabei spielt der Ressourcenverbrauch eine ganz wichtige Rolle. Soziale Kompetenzen sind hierbei der Schlüssel. Menschen müssen lernen, wie das funktioniert, wie man das machen kann. Hier ist ein rücksichtsvoller Umgang mit Kulturen und den Bedürfnissen der Einheimischen gefragt, der beim Massentourismus völlig untergeht.Doch welchen Sinn und Zweck erfüllt das Reisen denn in einer Zeit, in der jede noch so abgelegene Bucht, jedes noch so intime Hotel und jede noch so exotische Kultur bereits genau beschrieben, fotografiert oder gar als TikTok-Video im Netz bereitgestellt wird?
Reisen ist eine gute Möglichkeit, um andere Kulturen zu entdecken. Die unmittelbare Erfahrung kann nicht durch Bücher, Fotos und Filme ersetzt werden. Es fördert auch die Offenheit und das interkulturelle Verständnis.

Woher kommt Ihre Liebe für das Reisen?
Ich glaube von meiner Mutter. Sie ist viel gereist und hat mich viel inspiriert mit ihren Geschichten. Und dieses Fernweh – das trägt man, glaube ich, in sich. Das ist bei meinen Kindern sogar noch krasser ausgeprägt. Sie sind da noch verrückter als ich (lacht).

Mehr über nachhaltiges Reisen bei www.travel-to-nature.de


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