Rosinenpicker

Peter Kneidinger. Foto Ursula Röck

Das Wiener Unternehmen „Materialnomaden“ erntet Bauteile und viele Schätze aus Abbruchhäusern. Was anderswo Abfall wäre, führen sie einer neuen Verwendung zu und setzen so effektive Schritte zu einer zirkulären Baukultur. Von Magdalena Mayer

Die Holzverkleidung der Wand war einmal ein Beichtstuhl, erzählt Peter Kneidinger an der Bar von Magdas Hotel in Wien. Der Bauingenieur hat dort Platz genommen, um über die „Materialnomaden“ zu sprechen, die er mit der Architektin Andrea Kessler leitet: Ein Team, das kreislauffähige Prozesse in der Baubranche vorantreibt. Eines ihrer jüngsten Projekte ist Magdas, das 2022 in die Ungargasse umgesiedelte Social Business Hotel, wo Kneidinger neben der Verkleidung viele weitere Elemente zeigen kann, mit denen die „Materialnomaden“ einen „re:use“-Prozess mitgestaltet haben. So leuchten im Raum Lampen aus ehemaligen Priesterwohnungen, ein ausgemusterter Radbügel aus einem Zugwaggon ist hier wieder im Einsatz, Balkongeländer wurden in den Garten versetzt. „Sich mit dem Material auseinanderzusetzen, ist das Um und Auf“, sagt Kneidinger. In leerstehenden Objekten wird erkundet, welche Gebäudekomponenten noch genutzt werden könnten. Wenn Abrisse begleitet werden, heißt es, jedes verbliebene Möbelstück, jede Wand, jeden Bodenbelag zu begutachten. Bei den „Materialnomaden“ nennt man das „ernten“.

Viele Schätze seien unter den Dingen, die sie bergen, berichtet Kneidinger. Kürzlich hätten sie bei einem Rückbau hinter einer Tapete ein Regal mit etlichen Dias gefunden. Besonders sei auch der Fund von Kirschholzplatten in einer Wohnung gewesen, „damit kann man super Akzente setzen“. Vor einem neuen Gebrauch werden diese entnommenen Bestände eingelagert: In einer temporären Lagerhalle im 21. Bezirk, mehr und mehr auch im Kreativzentrum CampusVäre in Dornbirn. Dort generieren die „Materialnomden“ derzeit in einer Halle von rund 2.000 Quadratmetern ein „exemplarisches“ Lager. 2024 wird davon ausgehend ein Projekt starten, bei dem sie Kreislaufdenken in der Baukultur sichtbar machen und Fragen anstoßen wollen, die sie seit ihrer Gründung 2017 beschäftigen: Wie gehe ich an das Vermitteln von Bauteilen ran? Was passiert, wenn sie von irgendwo rückgebaut werden und zwischengelagert werden? Wie bringe ich sie wieder in die Umsetzung?

Der Energie- und Ressourcenverbrauch der Baubranche ist alarmierend. Fast zwei Drittel des österreichischen Abfallaufkommens verursacht der Bausektor, vermeldete das Umweltbundesamt vor zwei Jahren. Das ist nicht besser geworden, sagt Kneidinger, der zusätzlich darauf verweist, dass die Branche etwa 40 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verursacht. „Die Baubranche ist sich einig, dass es so nicht mehr weitergeht.“ Mit der anstehenden Bauordnungsnovelle dürfte in Wien der Abriss von älteren Objekten außerdem schwieriger werden. Schon jetzt forciert die EU-Taxonomie-Verordnung durch Vorgaben das Einsparen von CO2, mit definierten Umweltzielen und daraus abgeleiteten technischen Anforderungen für Nachhaltigkeit im Bau- und Immobilienbereich. Der Wille zum Wandel sei da, meint Kneidinger.

Begonnen hat alles mit zwei Projekten: Mit der Firma Bauteiler für angeleiteten Selbstbau und der „HarvestMAP“, einer Genossenschaft zur Vermittlung wiederverwendbarer Bauteile, für die sie von Architekturbüros bis zum Social-Urban-Mining-Anbieter „Baukarussell“ verschiedenste Mitglieder gewinnen konnten. Bald kam unter dem Namen „Materialnomaden“ eine weitere Firma Kneidingers und Kesslers dazu und deren erste Projekte. Momentan werden diese von einem Büro im vierten Wiener Gemeindebezirk aus geplant, während die Werkstatt in Containern nach Oberösterreich gereist ist: Dort haben die „Materialnomaden“ mit Auftrag der „Circular House GmbH“ das Projekt „Lena“ begonnen, bei dem sie versuchen, den Kreislaufgedanken so hochgradig wie möglich umzusetzen – mit der Rückgewinnung von vorhandenen Elementen bei einem Einfamilienhaus als auch mit dem Fokus auf Weiterverwendung und Einsparung bei Elementen, die neu dazukommen. „Wir versuchen, ein Projekt holistisch zu betrachten“, so Kneidinger. Am Anfang steht die Frage: Was ist der Mehrwert der Wiederverwendung, was sind Umbaukosten und Folgekosten?

Ganz wichtig sei: Statt einer Verwertung, bei der Bauteile stofflich zerlegt werden und dann auf die Deponie kommen, verbrannt oder recycelt werden, achten die „Materialnomaden“ darauf, dass Ressourcen im Ganzen wieder zum Einsatz kommen. Denn beim Recycling „ist noch Luft nach oben“, sagt Kneidinger, und: „Abfall wieder zu einem Produkt zu machen, ist rechtlich schwer möglich“. Die „Materialnomaden“ dokumentieren mit Bauteilkatalogen Bestände und haben das Materialaufnahmetool „rosinA“ entwickelt: „Mit dem picken wir Rosinen aus dem Bauwerk, für uns und die Eigentümerinnen und Eigentümer.“ Bei Gebäuden, wo sie die Demontage von Teilen begleiten, erfolgt eine Schad- und Störstofferkundung für die Eignung zum Wiedereinsatz. Diese koste zwar einiges, auch fielen bei Vorhandenem andere Investitionskosten an als bei Neuplanungen. Aber im Endeffekt schaue bei der Kosten-Nutzen-Rechnung ein Gewinn heraus, beschreibt Kneidinger: Ausgaben für Abbruch, Transporte oder Deponie entfallen, dahingegen entstehen etwa neue Arbeitsmöglichkeiten beim Demontieren. Ein Fokus auf den Bestand sei beim Durchrechnen billiger als Neubau. Und auch Aspekte, die nicht monetär sind, gibt Kneidinger zu bedenken: Die alten Ressourcen erzählen Geschichten, haben oft einen Mehrwert an Design, Kreativität und Wissen wird generiert. Daher ist er sich sicher: „Wir werden es schaffen müssen, Kosten anders zu definieren“.

Bei „Friday challenges“ – Beratungs-Workshops – geben die „Materialnomaden“ ihre Expertise weiter, mit ihren Katalogen zeigen sie planerische Möglichkeiten und begleiten Projekte. Dinge müssen greifbar und sichtbar werden, dann funktioniert es für die meisten Menschen, findet Kneidinger. Bei der Vienna Design Week haben die „Materialnomaden“ vor kurzem über Voraussetzungen für das Schaffen eines „Circular Hub Wien“ gesprochen, ein Zentrum für die Kreislauf- und Kreativwirtschaft, in dem es neben einer Denkfabrik auch Lager und Werkstätten geben sollte. In der Vorarlberger CampusVäre geht es bereits in diese Richtung. Dass intensiv nach Lösungen gesucht wird, wie Kreislaufwirtschaft in der Baukultur funktionieren kann, sieht Kneidinger als Chance auf allen Ebenen: „Man kann noch so viel gemeinsam gestalten“. 


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