Schätze der Karibik

Rum
Rhum agricole ist ein Underdog. Mit dunkler Vergangenheit, als Kind einer veritablen Krise entstanden, hat er zu sich gefunden und präsentiert sich heute Rumliebhaberinnen und Rumliebhabern als Outsider mit Ecken und Kanten. Guadeloupe, die Karibikinsel, die wie ein schöner Schmetterling auf den Wellen der Karibik sitzt, ist das Kernland des Rhum agricole.
Text und Fotos von Jürgen Schmücking
Léopold Reimonenq hat „seine“ Brennerei fest im Griff. Mit klarem, wachen Blick verfolgt er akribisch, wie etwa 30 bis 40 Zentimeter lange Zuckerrohrstangen mit einem Laufband zu den Pressen befördert werden. Eine seltsame Mischung von Gerüchen liegt in der Luft. Üblicherweise riecht es in einer Brennerei nach der jeweiligen Maische, die gerade destilliert wird. In einer Anlage, in der Rhum agricole gebrannt wird, ist das anders. Hier vermischen sich viele Gerüche: der exotisch-frische Duft von gepresstem Zuckerrohrsaft mit dem Geruch von Schmieröl und dem der Bagasse (die faserigen Rückstände nach dem Pressen des Zuckerrohrs). Der wilde Goût der Fermentation liegt in der heißen Luft, es riecht nach frischen aber auch verrotteten exotischen Früchten, hauptsächlich nach Mangos. Und es ist laut, sehr laut sogar. Vor allem, wenn sich die großen Zahnräder drehen und das Zuckerrohr gepresst wird. Hin und wieder wird das rhythmisch-dumpfe Mahlgeräusch vom hohen Pfeifen einer Dampfmaschine unterbrochen. Der frische Zuckerrohrsirup wird vergoren und anschließend gebrannt. Das Destillat, das bei diesem Prozess herauskommt, heißt Rhum agricole und unterscheidet sich grundlegend von den anderen Rums der Welt. Aber bevor wir ihn uns genauer ansehen, noch ein kurzer Blick zurück zu den Wurzeln der karibischen Rum-Produktion.
Es war einmal …
Als Charles Houët, der Vertreter der französischen „Compagnie des îles d‘Amérique“ in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Guadeloupe landete, fand er viele kleine Bauern vor, die auf fruchtbaren, vulkanischen Böden Baumwolle, Tabak und Indigo anpflanzten. 1654 kamen ein paar Hundert niederländische Protestanten auf die Insel, die in den Wirren der Kolonialpolitik von den Portugiesen aus Brasilien abgeschoben wurden. Diese Holländer wussten, wie mit Zuckerrohr umzugehen ist und brachten es den Franzosen auf der Antilleninsel bei. Aus den vielen kleinen Ländereien der Bauern wurden riesige Plantagen. Das Zuckerrohr drängte die Baumwolle und den Tabak zurück und 1730 verschwand das letzte Indigofeld. Allerdings ist der Anbau und die Verarbeitung von Zuckerrohr sehr arbeitsaufwendig, sodass die Anfänge der – gewerblichen – Rumproduktion untrennbar mit dem Beginn der Sklaverei verknüpft sind. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte einer großartigen Spirituose.
Ursprünglich wurde Rum aus Zuckerrohrmelasse hergestellt. Die Melasse fällt als Nebenprodukt der Rohrzuckerproduktion, genauer gesagt bei der Raffination von Kristallzucker, an. Napoleons Kontinentalsperre gegen England hatte zur Folge, dass der Import von karibischem Rohrzucker nicht mehr gewinnbringend war – der Startschuss für den Aufstieg der Zuckerrübe und der Beginn der Zuckerkrise in Mittelamerika. Und eine gedrosselte Zuckerproduktion bedeutet auch weniger Melasse. Hier haben die Destillerien, die wegen der fehlenden Melasse in die Bredouille kamen, aus der Not eine Tugend gemacht, und einfach den frisch gepressten Zuckerrohrsaft vergoren und destilliert. Voilà: Rhum agricole.

„Der Rum ist die Seele
Guadeloupes, der Lärm der Zuckerrohrmühlen sein Herzschlag.“
Léopold Reimonenq
Saft oder Melasse: eine Frage des Stils
So viel zur Geschichte. Die Sklaverei wurde beendet, die Produktion von Rohrzucker ging, der Rum aber blieb und wurde Teil der karibischen DNA. Nicht nur in Guadeloupe. Auch in den Kolonien, wo Spanien das Sagen hatte, also in Kuba, Puerto Rico oder in der Dominikanischen Republik, aber auch, wo Engländer die Kolonialherren waren, etwa auf Barbados oder Trinidad und Tobago. Daraus entwickelten sich die drei wesentlichen Stile beim Rum. Der englische ist dabei der älteste. Die Destillate sind dunkel, schwer, kräftig und ausgesprochen würzig. Rum in spanischem Stil basiert zwar ebenfalls auf Melasse, ist aber geschmacklich das genaue Gegenteil – in der Regel leicht und straight. Er punktet eher mit Harmonie und Weichheit. Der Rhum agricole, der dritte im Bunde, blieb ein Underdog. Gerade einmal fünf Prozent der Weltproduktion macht er aus, die werden allerdings zu beinahe 100 Prozent konzentriert auf den französischen Antillen und mittendrin Guadeloupe hergestellt.
Aber Achtung: nicht jedes Destillat aus frischem Zuckerrohrsaft und auch nicht alles, was auf den französischen Inseln an Rum gebrannt wird, ist automatisch gleich ein Rhum agricole. Die Gärung findet in offenen Bottichen statt, in denen „vesou“, die Maische, schäumt und blubbert. Ein untrügliches Zeichen, dass die Hefe ihre Arbeit macht. Destilliert wird dann mit einer Kolonne, wie sie auf den französischen Antillen seit Mitte des 19. Jahrhunderts üblich ist. Die „vesou“ wird durch zwei Wärmer, einen „chauffe-vin“ oder Weinwärmer und später in den „échangeur“ oder Wärmetauscher geleitet. Sobald die Temperatur auf 70 Grad Celsius gestiegen ist, kommt die Maische in die Kolonne. Von den unteren Böden wird Dampf eingepumpt. Danach wird die „vesou“ von Boden zu Boden nach unten geleitet. Der aufsteigende Dampf entzieht der Maische Alkohol, der alkoholische Dampf entweicht am oberen Ende der Kolonne in den Head-Konzentrator. Die volatilen, sprich flüchtigen Bestandteile entweichen, der Dampf wird dann durch ein Rohr geleitet und kondensiert.
Viele Destillerien auf Guadeloupe tragen französische Namen. Die Marke „Damoiseau“ ging etwa aus der Destillerie Bellevue in der Gemeinde Le Moule hervor, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts von Roger Damoiseau erworben wurde. Heute leitet dessen Enkel Hervé die Brennerei. Der Großteil, etwa zwei Drittel des produzierten Rums, wird in Guadeloupe, beziehungsweise in der Karibik verkauft. Oder die Destillerie Longueteau im Basse-Terre. Sie ist seit Ende des 19. Jahrhunderts in Familienbesitz, gekauft von einem französischen Marquis, dem die Zuckerkrise gehörig zusetzte. Zur Palette von Longueteau gehört auch eine Reihe weißer, also ungereifter Rum-Sorten. Das ist für eine Sache essenziell: Ti‘ Punch. Dieser – im Grunde einfache Cocktail – ist für Guadeloupe das, was für Österreicher der G‘Spritzte ist. Oder für die Bayern das Weißbier.
Ti‘ Punch bis zum bitteren Ende
Ti‘ Punch ist ein karibischer Cocktail, dessen Grundrezeptur eine gehörige Portion „laissez faire“ beinhaltet. Die Zutaten sind schlicht: Zitrusfrucht, Zucker, Rhum agricole. Man könnte meinen „Rum Sour“. Ein Daiquiri ist auch nichts anderes. Auch Cachaça, das brasilianische Zuckerrohrdestillat, das mit Rhum agricole viele Gemeinsamkeiten hat, ist die Basis für Caipirinha, und auch der geht in die gleiche Richtung. Trotzdem: Ti‘ Punch ist in Guadeloupe eine Glaubensfrage. In der Gastronomie findet man oft weißen Rhum agricole von Père Labat oder Bielle. Beides traditionelle Destillerien auf der „Mühleninsel“ Marie-Galante, knapp 50 Kilometer von der Küste Guadeloupes entfernt. Marie-Galante, benannt nach einem der beiden Begleitschiffe, die die Santa-Maria von Christoph Kolumbus begleiteten, war eine einzige große Zuckerrohrplantage. Heute befinden sich noch eine Reihe alter Mühlen auf der Insel und die verbliebenen Destillerien gehören zu den besten der Region.
Beide Destillerien, sowohl Bielle als auch Père Labat, produzieren auch einen bio-zertifizierten Rhum agricole. Eine Entwicklung, die erst ein paar Jahre alt ist, aber schon kräftig Fahrt aufgenommen hat. Bielle geht dabei sogar noch einen Schritt weiter und pflanzt standortspezifische Sorten Zuckerrohr an, um das Terroir im Rum noch stärker herauszuarbeiten. Seit 2015 wird mit drei verschiedenen Arten experimentiert: Grey Cane, Baltazia und Genou Cassé. Die Rums, die aus diesen Sorten entstehen, sind eigenständig und charaktervoll. Vor allem unterscheiden sie sich stark voneinander.


Wobei das schon eine recht stattliche ist.
Und – um auf den Ti‘ Punch zurückzukommen – was ist hier mit „laissez faire“ gemeint? In der Karibik hat man es nicht so mit Rezepten und genauen Angaben. Der Cocktail wird oft serviert, indem ein paar Gläser, eine Schüssel Rohrzucker, ein paar aufgeschnittene Limetten und eine Flasche Rum auf den Tisch gestellt wird. Ab da ist jeder für sich selbst verantwortlich. Das Ganze läuft dann unter dem Motto „chacun prépare sa propre mort“: Jedem sein eigener Tod.
Hinweis:
Spirits Selection ist ein internationaler Spirituosenbewerb, organisiert und durchgeführt von „Concours Mondial de Bruxelles“. Die Organisation lud den Autor als Juror nach Guadeloupe ein und ermöglichte die Besuche der genannten Destillerien.
spiritsselection.com