Schläge in die Fresse und die Liebe zu sich selbst

Felix Defèr und Vivienne Causemann. Foto Sarah Mistura

Von Daniela Egger

Auf dem Herbstprogramm des Vorarlberger Landestheaters steht Büchners Woyzeck von Robert Wilson, mit Musik von Tom Waits. Felix Defèr und Vivienne Causemann spielen die beiden Hauptrollen. Im Interview erzählen sie vom Schauspielen, von Ängsten und Freuden – und von Woyzeck in der heutigen Zeit.

Warum wird man Schauspielerin oder Schauspieler?

Vivienne: Bei mir war es die Energie, die es mir gibt. Ich war nach den Proben immer voller Energie, nie müde. Mit 17 habe ich mich in Frankfurt beworben und auch in Wien, dort hat es im Max Reinhardt Seminar geklappt. Trotz einer längeren Pause wegen einiger Theaterprojekte in Deutschland konnte ich die Bühnenreife machen. Es wären eigentlich drei Prüfungen gewesen, aber nach der 2. Prüfung haben die mir gesagt, ich soll loslegen. Dann habe ich losgelegt.
Felix: Ich hatte immer eine spielerische Natur, auch weil ich nicht der Norm entsprechen konnte, mein Spiel war ein Schutz. Meine Familie nannte meine Ausbildung „Clownschule“, dabei lernt man so vieles über sich selbst, auch über Gefühle zu sprechen. Mit etwas Glück hat man tolle Leute, die ausreichend Erfahrung haben, einen dabei zu begleiten.

Verändert man sich in der Ausbildung?

Vivienne: Ich glaube, man ist erst mal reflektierter. Ich bin aber auch so aufgewachsen, alles zu hinterfragen.
Felix: Wir haben gelernt, dass Schauspielschulen dazu da sind, einen zu brechen. Aber das kann überall passieren, dass man auf Menschen trifft, die ihre Macht ausnutzen. Man ist ja erst mal dankbar, dass man überhaupt angenommen wurde. Ich hatte große Ängste, dass ich mich zu sehr verändern könnte, nicht mehr ich zu sein. Ich habe deshalb in einem Buch aufgeschrieben, was ich denke, gesamtgesellschaftlich, politisch, und wer ich bin.
Vivienne: Im Ernst?
Felix: Ja, ganz im Ernst. Ich habe natürlich immer schon mit Sachen gespielt, und irgendwann kam mir die Erkenntnis: Ich kann so vieles sein, im Ausprobieren, im Spiel. Aber dann … man lernt nicht durch Wohlfühlphasen oder beim Mantra chanten, man lernt durch Schläge in die Fresse. Das will keiner, das tut schließlich weh, man möchte lieber die Liebe spüren, aber das ist es nicht.

Eine konkrete Situation?

Felix: Hm, zum Beispiel war ich bei einer Probe ziemlich überdreht und bin gestürzt, dabei habe ich mir an einer Bierflasche die Hand aufgeschnitten. Das brauchte einen Druckverband, das Blut spritzte nur so. Da saß ich dann auf dem Klo und dachte darüber nach, ob ich wirklich das lebe, was ich soll. Ich hatte mir in die Kopflinie und die Herzlinie der Handfläche geschnitten. Danach wusste ich, dass ich was tun muss. Das war eine regelrechte körperliche Intervention.
Vivienne: Ich hab schon auch viel in die Fresse gekriegt, und ich lande regelmäßig im Krankenhaus. Ich bin aber auch einfach sehr neugierig und finde es spannend, mit Regisseuren zu arbeiten, die dich brechen wollen, aber ich bin oft nicht das Ziel. Manche „Theatermeister“ vermitteln diese Lehren, ich glaube ursprünglich kommt der Stil, auch sehr körperliche Theaterarbeit, aus dem Osten. Ich habe in der Ausbildung erlebt, dass ein Regisseur eine Schauspielerin so lange in Frage gestellt hat, bis sie in Tränen ausgebrochen ist – und er dann echte Tränen sehen konnte.

Und steigert das die Qualität des Schauspiels auf der Bühne?

Felix: Ich finde, das hat mit Schauspiel nichts zu tun. Schauspielen ist ein Handwerk, und es gibt verschiedene Techniken. Der Schlüssel zum Erfolg liegt ja auch oft außerhalb der Norm. Man braucht Hilfe, um sich auf diesen Prozess einzulassen und fähig zu werden, über den Kasten hinausspringen. Das ist zunächst mal unangenehm.

Das würde doch ein bisschen für diesen sadistischen Regisseur sprechen?

Felix: Nein. Die Liebe ist größer als alles andere. Wie im Hohelied der Liebe: sie trägt alles, sie glaubt alles, sie verhält sich nicht ungehörig. Man ist als Schauspieler auf der Bühne sehr verletzlich, weil man eben nicht weiß, wie es geht. Das geht den Virologen so, den Mathematikern, den Politikern, keiner weiß, wie es wirklich geht. Es sind alles nur Behauptungen. Und beim Schauspiel setzt man sich dem öffentlich aus, dass man eben NICHT weiß, wie es geht. Diese absolute Verlorenheit zuzulassen, das erfordert Mut.
Vivienne: Bei uns geht es darum, die Einzigartigkeit von jedem und jeder zu feiern, in der Arbeit mit einer Rolle. Daraus entsteht dann so viel Interpretation, aber man muss sich erst mal diesen Freiraum nehmen. Ich habe heute mit der Marie gearbeitet für Woyzeck und fand es schwierig, mir ihr Leben vorzustellen. Sie hatte keine Chance auf Bildung, auf eigene Entscheidungen, die war immer von einem Mann abhängig. Meine Erfahrungen als Frau heute sind andere, zum Glück.

Kann Theater also gesellschaftlich etwas bewirken?

Vivienne: Ich merke gerade jetzt, dass Theater, das ich machen will, politischer sein soll. Ich finde das super, dass unsere Intendantin Stephanie Gräve hier ihre Themen platziert und konsequent dabei bleibt. Obwohl Klaus Maria Brandauer immer gesagt hat: Durch Theater kannst du nicht die Welt verändern.
Felix: Na das stimmt nicht. Georg Kreisler hat definitiv mein Leben verändert.

Sollte das Thema Umwelt oder Klima eine größere Rolle spielen im Theater?

Vivienne: Es sollte vielleicht etwas mehr durchdacht werden. Nicht nur „in die Fresse, ihr macht den Planeten kaputt“, wie das bei anderen Themen durchaus auch gut funktionieren kann, finde ich. Die Leute können das Thema Klima ja leider auch oft nicht mehr hören. Es braucht Wege, die Leute erst mal offen zu machen für Informationen, dann mitzunehmen, umzudenken, zu motivieren. Die letzten beiden Stücke, die ich hier am VLT gemacht habe/hätte, haben sich damit intensiv auseinandergesetzt. Es waren Ermutigungen mit dabei, Möglichkeiten und Denkanstöße, wie man reagieren kann, was man verändern kann. Aber es war auch deutlich, wie dringend es ist, etwas zu tun.

Warum bringt Woyzeck die Marie um?

Felix: Das herauszufinden ist jetzt meine Aufgabe. Ich denke, er bringt sie aus Verzweiflung um, weil er ohnmächtig geworden ist. Und weil man niemals den eigenen Aggressor umbringt, richtet sich die Aggression immer gegen die Schwächere, in diesem Fall Marie. Es würde Mut erfordern, jemanden zu töten, der über einem steht – dann will ich ja noch etwas erreichen, dann sage ich Ja zum Leben. Das ist bei Woyzeck, glaube ich, nicht mehr der Fall.
Vivienne: Für mich ist Marie eine Frau, die Bibel liest, und gleichzeitig sagt sie irgendwann zu ihrem Kind: Bist ja nur ein Hurenkind. Mir ist wichtig zu zeigen, dass sie nicht wie eine „Schlampe“ wirkt. Sie ist eine Frau, die wohl nicht viele Chancen hatte, etwas aus sich zu machen, und deshalb sucht sie Nähe und Bestätigung beim anderen Geschlecht, da die Männer eh auf sie abfahren. Aber sie findet nie ein Zuhause, glaube ich. Sie kommt nie an. Ihre Abhängigkeit sorgt auch dafür, dass sie aber nicht zu viel darüber nachdenkt, sie reagiert im Moment, triebhafter.

Lässt sich Woyzeck ins Heute versetzen?

Felix: Das Stück erzählt über Armut, und was diese noch zulässt an Liebe, an Seelenbildung. Ich weiß keinen Ort mehr in unserem Leben heute, der den Lebensumständen von Woyzeck nahekommt. Früher war man seiner Angst mehr ausgesetzt, der Winter war schweinekalt, die Stille war drückend, ganz konkret. Die Schere zwischen Arm und Reich war schon längst zum Spagat geworden. Woyzeck ist ständig unter Druck, auch Marie ist ständig getrieben. Es ist die Abwesenheit der Lebensfragen, für die man unter dem enormen Druck gar keine Zeit und keine Energie hat, das sind Themen, die werden nie aufhören. Deshalb – ja klar, das Stück passt in jede Zeit.
Vivienne: Es geht auch einfach um Gefühle, und die sind damals wie heute dieselben. Auch wenn wir uns gerne einbilden, dass wir uns so weiterentwickelt haben, und dass wir vorigen Jahrhunderten so viel voraus haben, und uns bemühen, uns selbst zu versachlichen und zu optimieren. Der Schmerz, Hass und Liebe, die bleiben.

Und was wird aus dem Kind?

Felix: Wenn man die Protagonisten des Stücks als Aspekte einer einzigen Person betrachtet … die Tötung der weiblichen Anteile tötet auch das Kind. Das Kind ist die Zukunft und danach spielt es keine Rolle mehr. Oben drüber liegt die Tragik und darunter liegt eine Komik. Büchner hat seine Figuren wie auf dem Schachbrett aufgestellt, der spielte mit diesen Ebenen.

Komik mit Musik von Tom Waits?

Vivienne: Ich glaube, Tom Waits hat sich ja selber auch nicht so ernst genommen. Das wird sicher ein schönes Spannungsfeld. Der Umgang mit dem Kind, das ist eine Frage, auf die ich gespannt bin. Ich werde fünf Lieder von Tom Waits singen … und bin echt gespannt zu sehen, wie die diese Geschichte voranbringen.
Felix: Ich freue mich so sehr auf diese Inszenierung – und habe mich noch nie so früh und so bewusst auf etwas vorbereitet. Ich habe große Angst davor, mich zu früh vorzubereiten – was mache ich denn dann, wenn ich den Druck nicht habe? Schlechte Vorbereitung ist auch schrecklich, es erfordert die Selbstachtung, dass ich mich kontrollieren kann. Selbstkontrolle führt zu Selbstachtung. Oh, ich schweife ab … ich freue mich sehr darauf, mit Vivienne zu spielen, und mit dem Regisseur Tobias Wellenmeier zu arbeiten. Der ist immer perfekt vorbereitet …
Vivienne: Und wir werden ihm das alles wieder zerstören …
Felix: Das müssen wir!
Vivienne: Ja, darauf freue ich mich auch sehr. Ich liebe diese Arbeit – und ich liebe den Text von Büchner. 


Vivienne Causemann, 1995 in Süddeutschland geboren. Von 1996 bis 2000 lebte sie in Windhoek, Namibia, und kehrte dann mit ihrer Familie nach Deutschland zurück. Sie absolvierte das Max Reinhardt Seminar in Wien und ist seit 2019 im Ensemble des Vorarlberger Landestheaters.


Felix Defèr, 1989 in Dresden geboren, studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelsohn Bartholdy in Leipzig. Seit 2018 ist er Mitglied des Ensembles des Vorarlberger Landestheaters.
___________________________________________________________________________

Woyzeck

Robert Wilson/Tom Waits/Kathleen Brennan nach Georg Büchner. Inszenierung: Tobias Wellenmeyer
Matinee: So., 13. 9. 2020, 11 Uhr
Premiere: Sa., 19. 9. 2020, 19.30 Uhr
landestheater.org

Teilen auf:
Facebook Twitter