Kuchen, Sherry und geistlose Gespräche

Von Verena Roßbacher

Der Dörlemann Verlag erweist uns seit einigen Jahren den hehren Dienst, Bücher, die entweder bislang gar nie auf Deutsch erschienen sind oder solche, die zu Unrecht in Vergessenheit gerieten, herauszugeben. Darunter viele englische Autorinnen, deren Werk hier weitestgehend unbekannt ist und das zu entdecken natürlich eine Freude ist – nicht zuletzt dieses erstaunliche Buch, das seiner Zeit (es erschien 1958) weit voraus zu sein scheint und heute, immerhin fast siebzig Jahre später, merkwürdig frisch wirkt und auf schwer zu klärende Weise schräg, aber auf die gute Art.

Penelope Mortimer, geboren 1918 und 1999 verstorben, war Journalistin und Autorin und kannte das Leben der britischen Upperclass, das sie hier beschreibt, aus eigener Anschauung. Die Themen ihres Buchs lesen sich wie eine Wegbereitung für den Feminismus der späteren 1960er Jahre.
Protagonistin ist Ruth Withing, eine 37-jährige Ehefrau und Mutter dreier Kinder. Sie lebt mit ihrer Familie im Umland von London, oder besser müsste man sagen, sie lebt nicht mit ihrer Familie im Umland von London – ihr Mann kommt nur am Wochenende nach Hause und arbeitet unter der Woche als angesehener Zahnarzt in der City. Die 18-jährige Tochter studiert in Oxford und die beiden Zwillingsjungs sind, abgesehen von den Ferien, im Internat. Withing wohnt in einem hübschen großen Haus und führt eine überschaubare Wirtschaft, es ist ein normales, gutbürgerliches Hausfrauenleben, mit Dinnerpartys an den Wochenenden und nachmittäglichen Treffen mit den anderen, ebenfalls alleine in ihren großen, hübschen Häusern zurückgebliebenen Ladies der Nachbarschaft. Alles könnte ganz großartig sein, das ist es aber nicht. Jung schwanger geworden und verheiratet, ohne eigenen Beruf, hatte Ruth Withing zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens das Gefühl, irgendetwas selbstständig, ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend zu entscheiden. Sie ist gefangen in einem Alltag der unendlichen Ödnis und Einsamkeit, einer frustrierenden Routine, die sie zur Verzweiflung bringt. Gern trinkt man nachmittags mal den ein oder anderen Sherry, und sie dann zu Hause noch ein bisschen mehr. Ganz nüchtern ist sie eigentlich nie.

Das klingt nun alles nicht besonders erbaulich, und das ist es auch nicht. Sehr bemerkenswert und regelrecht komisch wird dieses gesamte Setting allerdings durch die ungemein scharfe, analytische Beobachtungsgabe unserer Protagonistin. Vielleicht, weil sie eine große innere Distanz verspürt und letztlich allem gegenüber unverbunden bleibt, hat sie einen ähnlich sezierenden Blick wie ein Forscher, der sich einer unbekannten Ethnie widmet. Völlig unerwartet und verblüffend für uns Leser kommen diese glasklaren Beobachtungen, die direkt ins Herz dieser scheinbar perfekten kleinen Gemeinschaft treffen und sich nicht korrumpieren lassen. Sie ist eine harmlose, traurige, wütende, Frau, und sie hat einen fast übergenauen Blick – das macht es für sie keineswegs besser, ganz im Gegenteil ist es mit ein Grund für ihre Unfähigkeit, sich zugehörig zu fühlen. Für uns jedoch wird es genau hier interessant – sie ist Teil eines Systems und auch wieder nicht, und genau diese Außenseiterposition ermöglicht es ja erst, uns die Schrägheit und Groteske des Zusammenlebens überhaupt wahrnehmen zu lassen.

Hinein in diese Konstellation kommt die große Tochter mit der Mitteilung, schwanger zu sein mit einem Kind, das sie nicht will. Für ihre Verhältnisse wird Ruth Withing regelrecht betriebsam, zwar immer wieder in ihre übliche nervöse, unsichere und unentschiedene Art verfallend, aber dennoch: Hier, im England der 1950er Jahre, in dem Abtreibungen illegal sind, versucht sie, ihrer Tochter das eigene Schicksal zu ersparen, indem sie für sie einen Arzt auftreibt.

Erzählt wird hier eine Geschichte, die einen immer mehr einnimmt, fast hypnotisiert folgt man dieser stilistischen Seltsamkeit der angefangenen und sodann abgebrochenen Gedanken, akzeptiert, merkwürdig beglückt, das regelrechte Geworfensein in die unertwartetsten Situationen und bleibt schlussendlich verwundert zurück. Man hat ein seltsames, gutes Buch gelesen, das in seiner Schrägheit und literarischen Radikalität einen noch lange beschäftigt. 

Penelope Mortimer
Bevor der letzte Zug fährt
Roman
304 Seiten Seiten, Dörlemann
ISBN13: 978-3-03820-120-5,
2023


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