Standpunkte
Sie wagen sich in wilde Territorien, bringen fremde Konzepte in die europäische Heimat und exotische Kost auf die Teller: Wir haben mit internationalen Persönlichkeiten über ihren Bezug zur Ferne (und Nähe) gesprochen.
Von Doris Neubauer
Ayurveda betrachtet jeden Menschen in seiner Individualität und Einzigartigkeit.
Kerstin Rosenberg
Foto Rosenberg GmbH & Co.KG
Kerstin Rosenberg hat vor 30 Jahren mit ihrem Mann die „Europäische Akademie für Ayurveda“ im deutschen Hessen gegründet. Als Geschäftsführerin, Dozentin, Beraterin und Autorin verbreitet sie seither die indische Heilslehre in Europa.
Immer mehr Menschen scheinen sich für Ayurveda zu interessieren. Woher kommt diese Faszination mit diesem doch recht exotischen System?
Kerstin Rosenberg: Auch wenn Ayurveda mit wirkungsvollen Ausleitungsverfahren, wohltuenden Massagen und individueller Ernährungs- und Kräutertherapie ursprünglich aus dem fernen Indien und Sri Lanka stammt – wir selbst kommen uns mit Ayurveda ganz nah. Denn im Ayurveda heißt Gesundheit „Svastha“, was übersetzt soviel wie „im Selbst verweilen“ bedeutet. Die gesundheitsfördernden Behandlungen des Ayurveda dienen nicht nur dem Fernbleiben von Beschwerden, vielmehr stärken sie uns aus dem Innersten heraus und berühren Körper, Geist und Seele. Das macht nicht nur gesund, sondern auch glücklich.
Was begeistert Sie persönlich daran?
Ayurveda betrachtet jeden Menschen in seiner Individualität und Einzigartigkeit. Darauf abgestimmt gibt es keine „Therapie von der Stange“, sondern jeder wird entsprechend der eigenen körperlichen Konstitution und psychischen Bedürfnisse betrachtet und behandelt.
Wie lassen sich die Prinzipien aus dem alten Indien auf moderne, westliche Anforderungen „übersetzen“?
Im Ayurveda spielen Zeit („Kala“), Ort („Desha“) und Konstitution („Prakriti“) eine große Rolle. Unsere Ernährung, Verhaltensweisen und Therapeutik sollten stets regionale und saisonale Aspekte berücksichtigen und auf Konstitution und Lebensalter abgestimmt sein. Damit lassen sich die ayurvedischen Prinzipien auf wunderbare Weise und ohne Verlust an Authentizität sehr gut in unsere Welt implementieren.
Wie unterscheiden sich Panchakarma-, also Reinigungskuren in Indien und Europa?
Eine Panchakarmakur in Indien findet entweder in einem Krankenhaus oder in einem Hotel statt. Das heißt, der Kontrast von Medizin und Wellness ist viel stärker ausgeprägt als in einer hiesigen Kurklinik. Zudem gibt es oft sprachliche und kulturelle Barrieren, die eine umfassende Verständigung zwischen dem westlichen Patienten und seinem indischen Arzt und Therapeuten erschweren. Diese Aspekte sprechen für eine Ayurveda-Kur in heimischen Gefilden.
Indisches Essen, wie es derzeit in Europa zu finden ist, ist ein Produkt des kommerziellen Menümarketings.
Raja Sharma Rymbai
RAJA SHARMA RYMBAI setzt sich als Angehöriger der indischen Volksgruppe Jaintia für die Rechte indigener Völker in Südostasien ein. Dafür arbeitet er mit Jugend- und Ernährungsgemeinschaften zusammen und war an der Gründung der „Slow Food Chefs‘ Alliance“ beteiligt. In seinem Bistro in Finnland serviert er Gerichte aus seiner indischen Heimat.
Von Indonesien bis Kanada erlebt die indigene Küche eine Renaissance. Wie unterscheidet sich diese zum Beispiel vom Inder ums Eck?
Indigenes Essen ist das, was unsere Vorfahren seit Hunderten von Jahren zu sich nehmen. Essen, das lokal ist. Lebensmittel, die aus dem zubereitet werden, was im eigenen Ökosystem vorkommt. Das indigene Ernährungssystem ist nachhaltig, klimafreundlich und regenerativ. Indigenes Essen ist tief mit der eigenen Identität und dem traditionellen indigenen Wissen verbunden. Indisches Essen hingegen, wie es derzeit in Europa zu finden ist, ist ein Produkt des kommerziellen Menümarketings.
Sie meinten, dass diese Ernährungsweise eine „klimafreundliche Alternative“ wäre. Warum das?
Das Essen wird nach traditionellem Wissen zubereitet. Die Saisonalität wird dabei genauso berücksichtigt wie nur die Menge an Zutaten zu nehmen, die das Land anbietet. Damit ebnet es der Erde den Weg, zu heilen, sich zu regenerieren und zu gedeihen, und schafft so Biodiversitäts Hotspots, an denen mehr Arten überleben können.
Die Biodiversität von Lebensmitteln zu verteidigen ist auch ein Ziel der von Ihnen mitgegründeten „Slow Food Alliance of Indigenous Chefs“.
Ja, indigene Köche auf der ganzen Welt sind die Spielveränderer. Sie haben die Macht zu entscheiden, gutes, sauberes und faires Essen zu kochen. Daher war die Schaffung dieses Netzwerks wichtig, um ihre Rolle als Hüter der Natur und als Agenten des Wandels zu stärken. Wenn Köche aus Restaurants, Bistros, Kantinen und Straßenküchen lokales Obst, Gemüse oder Käse verwenden, unterstützen sie Kleinproduzenten vor Ort. So wird Nachhaltigkeit gefördert und Ernährungssouveränität bewahrt.
Wie setzen Sie dieses Konzept in Ihrem finnischen Lokal um?
Ich verwende Techniken, die in meiner indischen Heimatregion zuhause sind. Ich fische meinen Hering aus der Ostsee und trockne ihn, um unsere beliebten Trockenfisch-Chutneys herzustellen. Ich mache sikkimesische Momo-Knödel. Das Yak- oder Schweinefleisch ersetze ich durch Elchfleisch, das in der Saison vor Ort erhältlich ist. Außerdem bereite ich das Reisgericht „Jadoh“ zu – eine Spezialität in meiner Heimatstadt Shillong. Es ist im Grunde genommen Reis, der in einer ganz besonderen Zutat gekocht wird – Blut. Ich verwende das immer verfügbare Rentierblut, das bei örtlichen Metzgern verkauft wird. Indigenes Essen ist für Nicht-Indigene gewöhnungsbedürftig, weil wir viel fermentiertes Essen essen und ein Tier von Kopf bis Schwanz verzehren. Ich koche oft Fisch, der als Tierfutter gilt. Es ist also ein Prozess, Menschen dazu zu bringen, mein Essen zu lieben. Deshalb mache ich es in kleinen Dosen, um sicherzustellen, dass
jedes Gericht eine Geschichte zu erzählen hat.
Ich setzte die Fotografie als Werkzeug ein, um Daten über das Verhalten und die Physiologie der Schimpansen zu sammeln.
Ronan Donovan
Foto Ronan Donovan
RONAN DONOVAN begibt sich regelmäßig in die entlegene Wildnis: Von den Bergen Ugandas bis zur tiefen Arktis. Die spektakulären Aufnahmen des US-amerikanischen Naturschutzfotografen und Filmemachers sind in „National Geographic“ und „BBC Earth“ zu finden.
Sie haben Ihre Karriere als Biologe aufgegeben, um durch visuelles Geschichtenerzählen als Fotograf und Filmemacher den „wilden Tieren eine Stimme zu geben“. Wo ist Ihnen das Ihrer Meinung nach bisher am besten gelungen?
2011 verbrachte ich ein Jahr als Feldforscher und untersuchte wilde Schimpansen in Uganda. Damals setzte ich die Fotografie als Werkzeug ein, um Daten über das Verhalten und die Physiologie der Tiere zu sammeln. Auch wenn ich damals „nur“ Forscher war, haben mir diese Bilder die Toren zu „National Geographic“ geöffnet. Die Fotos und Videos aus diesem Projekt werden immer noch für andere wissenschaftliche Studien und Artikel verwendet. Für mich fühlt sich das wie eine meiner wirkungsvollsten Arbeiten an.
Danach haben Sie ein Jahr das Leben wilder grauer Wölfe im Yellowstone-Nationalpark dokumentiert und 10 Monate mit wilden weißen Wölfen in der tiefen Arktis verbracht. Wie bereiten Sie sich auf solche Expeditionen vor?
Lange Projekte sind körperlich sehr anstrengend. Um auf dem Niveau arbeiten zu können, muss ich daher ein gewisses Maß an Fitness aufrechterhalten. Umso mehr als ich auf die 40 zugehe. Ich hatte Operationen an beiden Knien, habe mir letztes Jahr das Bein gebrochen und hatte mehrmals Malaria – alles während meines Einsatzes. Einige der Herausforderungen sind vermeidbar, aber viele gehören zum Risiko dazu. Ich arbeite immer noch daran, im Einsatz mental und körperlich ausgeglichener zu sein, um die Geschichten besser zu kommunizieren, die ich für wichtig halte.
Ihre nächste Geschichte führt Sie wieder zu den Schimpansen nach Uganda. Worum geht es diesmal?
In Uganda hat ein starkes Bevölkerungswachstum zu einer weit verbreiteten Entwaldung und zum Verlust von Lebensräumen für Schimpansen geführt. Es ist sehr schwierig über den Schutz von Schimpansen zu sprechen, wenn das menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit durch die Tiere verletzt wird. Kinder wurden von Schimpansen getötet, und die Ernte der Menschen wird täglich von ihnen gefressen. Meine Hoffnung besteht darin, mehr Ressourcen und damit Lösungen bereitzustellen, um den Verlust von Menschenleben zu verhindern und den Lebensraum der gefährdeten Schimpansen zu bewahren.
Alles, was wir getan haben, war die Gesetze auch zum Schutz der kulturellen Werte und Landschaften zu nutzen.
Te Atarangi Sayers
Foto Doris Neubauer
TE ATARANGI SAYERS ist Meeresbiologe und Mitinitiator von Neuseelands größtem Meeresschutzprojekt. Als technischer Berater von NGOs und Maori-Gruppen verbindet er die traditionelle Weltanschauung der Maori mit westlichen Instrumenten des Umweltschutzes.
Maori kamen von den fernen Pazifikinseln über den Ozean nach Aotearoa, Neuseeland. Welche Bedeutung hat das Meer für die Indigenen heute?
Einerseits ist das Meer derzeit das größte Gut für die Ureinwohner Neuseelands. Sie beziehen ihr Vermögen überwiegend aus der Fischerei. Dieser Aspekt steht jedoch im Konflikt mit den Traditionen, die auf Utu (Reziprozität) und Mohiotanga (Wissen) über die Natur im Allgemeinen und den Meeresraum im Besonderen beruhen. Die kommerzielle Fischerei brachte den Indigenen also zwar finanzielle Vorteile, führte aber zum Aussterben dieser breiten Wissensbasis. Dabei hatten wir in Neuseeland einen großen Vorteil: Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die einen indigenen Reichtum besitzen wie wir. Der Vertrag von Waitangi zwischen der britischen Krone und den Maori war der einzige Grund, warum dieses Wissen bis heute existiert – andernfalls wären Maori in den 1880er Jahren ausgestorben.
Können Sie ein paar Beispiele für dieses Wissen geben?
Dazu zählen beispielsweise Tikanga (Rituale und Protokolle für Aktivitäten) im Meeresraum. Karakia (Gebete) oder Opferhandlungen etwa: Man muss etwas geben, um etwas zu nehmen. Das passiert nicht mehr. Verloren geht auch das Wissen darüber, welche Bedeutung bestimmte Elemente im Meeresraum haben – sind sie etwa Tapu (heilig), handelt es sich um Mahinga Kai (Ernteplätze) oder um Kohanga (Brutstätten z. B. von Fischen)? Wir wissen diese kulturelle Bedeutung verschiedener Inseln, Felsen, Riffe, aber auch Fische nicht mehr zu schätzen. Dabei hatten wir mehr.
Rund um die Insel Ihrer Vorfahren ist es Ihnen gelungen, ein Schutzgebiet einzuführen und so die kulturell bedeutenden Meereselemente und das Wissen darüber für künftige Generationen zu bewahren. Wie das?
Wir haben die Instrumente eingesetzt, die nach neuseeländischem Recht im Rahmen des Ressourcenmanagements zur Verfügung stehen. Darin gibt es Anordnungen zur Regeneration und zum Schutz von Landschaften, Biodiversität oder biologischen Werten. Alles, was wir getan haben, war die Gesetze auch zum Schutz der kulturellen Werte und Landschaften zu nutzen.
Nicht nur in Neuseeland, weltweit sind die Augen in Sachen Umweltschutz auf Indigene gerichtet. Warum das?
Das passiert nur, weil indigene Völker rund 80 Prozent der Biodiversität des Planeten besitzen. Deshalb gelten sie als Hüter der letzten naturreichen Gebiete. Ureinwohner zu fragen, ist nicht der richtige Weg. Sie haben das Problem nicht: Sie wurden von Kolonialisten von Entwicklungen des Landes ausgeschlossen, deshalb haben sie jetzt regeneriertes Land. Sie konnten gar nichts anderes damit anfangen. Wenn ich meinen westlichen Hut aufsetze und frage, wie man ohne indigenes Wissen unsere Umweltprobleme angehen sollte, lautet die Antwort: Durch die lokale Bevölkerung.
Was meinen Sie damit?
Erlauben Sie der lokalen Bevölkerung, den gesetzlichen Planungsrahmen fürs Ressourcenmanagement zu informieren – entweder durch Umfragen, Gemeindeversammlungen oder anderes: Welche Orte, welche Landschaften, sind für sie von Bedeutung und warum? Wo gibt es die höchste Biodiversität? Welche geschichtlichen Aspekte spielen eine Rolle? In der indigenen Weltanschauung beginnt alles dort, wo man steht, wo man schläft, wo man lebt. Das Wasser, aus dem man trinkt. Der Berg, von dem aus man navigiert. Der Ozean, den man überquert. Dann kommt das Universum. Es ist eine Beziehung, die aufeinander aufbaut. Für den Einzelnen bedeutet das: Schauen Sie nicht auf das, was weit weg ist, sondern beobachten Sie, was vor Ihrer Haustür stattfindet und arbeiten Sie mit dem, was Sie haben. Finden Sie Informationen über Naturschauplätze in Ihrer Nähe und setzen Sie sich für deren Schutz ein. Damit sind Sie am besten vertraut.