Strategien des Wandels
Foto: Nora Wilhelm bei einem Vortrag bei der Jahreskonferenz der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Foto Orbisswiss Photos & Press – Genève
Die Schweizer Organisation collaboratio helvetica bietet Menschen, die sich für eine bessere Zukunft engagieren wollen, eine Anlaufstelle und Unterstützung. Mitbegründerin Nora Wilhelm erklärt im Interview, wie so ein ganzheitlicher Systemwandel hin zu einer nachhaltigeren Schweiz gelingen soll.
Von Sarah Kleiner
Nora Wilhelm ist angetreten, das System zu verändern. Die 28-jährige Schweizerin will die Gesellschaft transformieren und Lösungen finden für die großen Probleme einer Welt, deren Problemfelder komplex und ineinander verwoben sind. Ihre Methoden sind Förderung von Potenzial, Bildung und Vernetzung. Mit unterschiedlichen Programmen und Angeboten will die Plattform collaboratio helvetica, die Wilhelm 2017 mitbegründet hat, zum systemischem Wandel und zu einer ökologischen, zukunftsgerechten Schweiz beitragen. Im Zentrum der Aktivitäten stehen die 17 SDGs, die „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen. Personen, die sich für die Erreichung eines der Ziele einsetzen wollen, können die Wege dorthin bei der collaboratio helvetica herausarbeiten.
Frau Wilhelm, wie läuft das ab, wenn sich eine Person bei collaboratio helvetica meldet, die sich grundsätzlich für eine soziale oder politische Veränderung einsetzen will?
Nora Wilhelm: Wir helfen der Person, sich mit Organisationen und anderen, die schon in dem Bereich tätig sind, zu vernetzen und verschaffen ihr Zugang zu den notwendigen Stellen. Wenn zum Beispiel jemand kommt, der seit zehn Jahren im Bereich Armutsbekämpfung aktiv ist und gemerkt hat, dass der Wandel, den er angepeilt hat, nicht stattgefunden hat, helfen wir, andere Strategien zu finden. Je nach Erfahrung und Vorkenntnissen würde so eine Person wahrscheinlich einzelne Workshops besuchen, um mehr über Multi-Stakeholder-Prozesse, Transformationstheorien und neue Formen der Zusammenarbeit zu lernen. Wenn eine Person in ihrem Projekt weiter vorangeschritten ist oder ein hohes persönliches oder zeitliches Commitment eingehen kann und möchte, um zu einem Systemwandel im Kontext eines SDGs beizutragen, dann wäre das eine gute Kandidatin für das „Catalyst Lab“. Dort bekommt sie die Weiterbildung und ganz konkrete Unterstützung, die es braucht, um ein soziales Innovationslaboratorium aufzubauen oder andere Methoden anzuwenden. Zum Programm gehören Unterstützung beim Fundraising, Kommunikationsunterstützung, Kontakte in Politik und Wirtschaft und so weiter. Je nach Person werden die Strategien individuell angepasst.
Wie viele Leute umfasst collaboratio helvetica heute?
Wir sind etwa zwölf Angestellte im Teilzeitpensum und haben eine digitale Community, die stetig wächst und etwa 600 Menschen umfasst. Wir haben gemerkt, dass es eine immer größere Nachfrage gibt. Die Bereitschaft für Systemwandel ist gewachsen. Das liegt sicher auch an der COVID-19-Pandemie. Neben all dem Tragischen, das sie gebracht hat, hat sie das Konzept des Systemdenkens stärker in das Bewusstsein der Menschen gerückt. Plötzlich sprach man davon, welche Berufe systemrelevant sind. Nahrung und Gesundheit waren essenziell, die Banken schon deutlich weniger. „Das System“ war plötzlich in den Köpfen der Menschen. Auch das Bewusstsein, dass es zusammenbrechen kann, war auf einmal da. Plötzlich wurden selbstverständliche Dinge, die man als gegeben hinnahm, hinterfragt.
Das „Catalyst Lab“ ist das Herzstück im Angebot von collaboratio helvetica, es umfasst eine mehrmonatige Ausbildung und Projektbegleitung. Was müssen Teilnehmerinnen und Teilnehmer leisten?
Das „Catalyst Lab“ haben wir 2019 ins Leben gerufen, um eine Lücke zu schließen. Wir haben festgestellt, dass sogenannten System Change Leaders häufig eine wichtige Unterstützung fehlt. Viele Stiftungen sind noch zu wenig vertraut mit Projekten, die Systemwandel anstreben und fördern Projekte dieser Art noch nicht ausreichend. Deswegen arbeiten wir auch mit Stiftungen zusammen. Die Teilnahme am „Catalyst Lab“ kostet etwa 20.000 Franken pro Person. Dank Fördergeldern können wir einen Preis von 8.000 Franken anbieten. Außerdem suchen wir nach weiteren Stiftungen, die Personen individuell mit Stipendien unterstützen möchten. Es geht bei dem Modell auch darum, ein neues Bewusstsein rund um Finanzen im Bereich sozialer Innovation zu kreieren. Wir versuchen, eine Community und Kooperationen aufzubauen, das heißt, dass wir generell in Projekte investieren, nicht nur in uns selbst. Die Handlungsorientierung sollte nicht das Ego sein, sondern das Ökosystem, also auf Englisch von „Ego“ zu „Eco“.
Bei einer Volksabstimmung in der Schweiz stimmten im Juni 51,6 Prozent der Bevölkerung gegen ein Gesetz, das auf eine Senkung des CO2-Ausstoßes abzielte. Die Preise für Benzin, Diesel und das Fliegen wären dadurch gestiegen. Was sagt das über den Willen der Bevölkerung zu Systemwandel aus?
In der Systemtheorie gibt es Menschen und deren Haltungen und es gibt die Systeme, die sich dann aus diesen Einstellungen heraus entwickelt haben. Wenn sich die Einstellung der Person ändert, würde man meinen, das System ändert sich direkt. Aber diese Veränderung überträgt sich nicht eins zu eins, weil die früheren Einstellungen institutionalisiert wurden. Und es gibt eine Hierarchie. Gewisse Menschen haben mehr Entscheidungsmacht in Systemen als andere, meistens damit verbunden, wer mehr Geld hat. Die Autoindustrie ist stark etabliert im Status Quo. Sie verfügt über eine starke Lobby und hat viele Ressourcen für Marketing. Das Referendum wurde begleitet von einer gut finanzierten Kampagne, die auf Angstmacherei setzte und den Menschen erzählte, dass alles teurer und die Wirtschaft leiden werde. Mit diesem Argument wurden in der Schweiz schon viele Weiterentwicklungen torpediert. Genau deshalb braucht es Projekte wie soziale Innovationslaboratorien. Genau deshalb braucht es diese neuen Ansätze. Allein der politische Weg, ebenso wie Aktivismus allein oder Wirtschaft allein, genügt nicht. Es braucht die Strategien des Wandels, die alle relevanten Akteure eines Bereichs zusammenbringen. Daran arbeiten wir und dafür setzen wir uns ein.
Haben Sie eine Erfolgsgeschichte eines Projekts?
In Brasilien zum Beispiel wurde ein soziales Innovationslaboratorium zum Thema Essen gegründet, weil es dort aktuell die erste Generation gibt, die statistisch gesehen weniger gesund ist als ihre Eltern. Der Hauptgrund ist Fettleibigkeit und einseitige oder sehr zuckerhaltige Ernährung. Es wurde ein Prozess mit allen Stakeholdern durchgeführt, diverse Lösungsansätze wurden identifiziert, dabei sind großartige Sachen wie „Community Gardens“ in den Favelas umgesetzt worden. Der Prozess zeigte, dass die ärmeren Communities gar keinen Zugang zu gesundem Essen haben, die Lösung war die Befähigung zur Eigenproduktion. Das Spannende ist, dass zwei Monate nach Abschluss des Projekts Pepsi und Coca-Cola angekündigt haben, sich mit ihren zuckerhaltigen Getränken aus Schulen zurückzuziehen, in denen Kinder unter zwölf Jahren sind. Das war nur möglich, weil eine Frau von Pepsi an dem Prozess teilgenommen und verstanden hat, wie sehr ihre Organisation das Problem mitkreiert. Sie hat innerhalb von Pepsi lobbyiert, bis der Konzern sich zusammen mit Coca-Cola für einen Wandel entschieden hat. Das ist die Kraft dieses Prozesses. Es braucht die Klarheit darüber, dass sich etwas ändern muss und aus dieser Klarheit heraus kann ein Wandel stattfinden. Das sind die Ansätze und Strategien, die wir vorantreiben. Der zweite wichtige Punkt im politischen Kontext sind positive Narrative einer lebenswerten Zukunft. Davon brauchen wir viel mehr.
Welches ist Ihres?
Meine persönliche Vision einer gerechteren und nachhaltigeren Zukunft ist, dass Menschen fähig werden, individuell und kollektiv ihre Lebensumfelder so zu gestalten, dass es ihren Werten entspricht. Das heißt, wir sind als Gestaltungsgesellschaft fähig, unsere Herausforderungen aber auch unsere Chancen in die Hand zu nehmen. Wenn wir als Gemeinschaft nicht einverstanden damit sind, wie das lokale Bildungssystem funktioniert oder damit, dass wir uns allein um unsere Kinder kümmern sollen, dann sind wir fähig, dafür eine Lösung zu finden. Generell ist meine Vision, dass wir diese Fähigkeit der Gestaltung überall verinnerlichen.
Wie kann man das erreichen?
Es gibt ein paar konkrete Elemente, was das bedeuten könnte. Zum Beispiel, dass innerhalb jedes Schulsystems Selbsterkenntnis und die Fähigkeit, sich und andere zu kennen, Teil des Unterrichtsprogramms werden. Auch Systemverständnis und Verständnis für Prozesse des Wandels sollten gelehrt werden. Aktuell ist das Schulsystem darauf fokussiert, gehorsame Arbeitskräfte zu produzieren, die ein bisschen informiert sind über die Welt. Es sollten kritische, reflektierte und kreative Bürgerinnen und Bürger aus dem Schulsystem kommen, die wissen, „Das sind meine Werte, das ist meine Community, diesen Beitrag will ich leisten“.
Auf demokratischer Ebene ist meine Vision, dass Partizipationsmöglichkeiten und Multi-Stakeholder-Prozesse auf jeder Ebene des demokratischen Prozesses integriert sind. Die wichtigen Stakeholder, die Bevölkerung auf kantonaler oder nationaler Ebene werden beteiligt und arbeiten gemeinsam an Lösungen. Dann braucht es collaboratio helvetica oder andere Anbieter, die diese Rolle übernehmen, nicht mehr. Ich stelle mir also eine Zukunft vor, in der jede Person ihr volles Potenzial ausleben kann und wir kollektiv im Einklang mit unseren Werten leben können. Mein persönlicher Slogan ist „Let‘s cocreate the world we want to live in“.
Nora Wilhelm, geb. 1993 in Aarau, Schweiz, sie wuchs in Genf auf und begann bereits als Schülerin, sich politisch zu engagieren. Sie studierte Internationale Beziehungen in St. Gallen und von 2014 bis 2016 leitete sie das Europäische Jugendparlament für die Schweiz. Derzeit absolviert sie einen Master in „Social Innovation“ an der University of Cambridge. Sie wurde von der UNESCO als „Young Leader“ ausgezeichnet und war auf der Forbes-Liste der „30 under 30“ in der Schweiz.