Superfood im Spelzmantel
Claudia und Bertram Martin. Foto Marcel Girardelli
Renaissance eines regionalen Superkorns: Eine Vorarlberger Kooperative lässt die alte Tradition des Dinkelanbaus neu aufleben und macht vor, wie mutige Geschäftsideen auch unter herausfordernden Bedingungen wertschöpfend und umweltschonend gedeihen. Von Simone Fürnschuß-Hofer
Er ist robust, anpassungsfähig und genügsam; seine festen, ihn schützenden Spelzhüllen sind bezeichnend: Dem Volksmund als „Spelz“ vertraut, im botanischen Verzeichnis unter Triticum spelta gelistet, kennen wir ihn hierzulande vor allem als Dinkel. Ein Getreide, das über ideale Eigenschaften verfügt, wo Standfestigkeit und Ausdauer gefordert sind. Mit kargen Böden, Höhenlagen und rauem Klima nimmt er es seit jeher auf. Dokumentiert (Quelle: „Getreideanbau im Lande Vorarlberg“ von Dr. Benedikt Bilgeri) ist, dass Dinkelfelder im 18. und 19. Jahrhundert ein gewohntes Bild im Rheintal abgaben. Und auch für die Epochen zuvor belegen Aufzeichnungen zum Getreidezins: Das nährstoffreiche Korn war in Vorarlberg jahrhundertelang ein beliebtes Saatgut. Mit der zunehmenden Industrialisierung wurde der Spelz jedoch sukzessive von ertragreicheren und leichter zu verarbeitenden Getreidesorten wie Weizen oder Mais verdrängt. Und so wiegen sich auf den Äckern des Rheintals heute um ein Vielfaches mehr Maisfahnen als Dinkelähren im Wind.
Dennoch ist der Dinkel seit einigen Jahrzehnten wieder in aller Munde. Vor allem bei der stark wachsenden Zielgruppe ernährungsbewusster Menschen erlebt er eine Renaissance, gilt er doch als gesunde und verträglichere Weizen-Alternative. Wer allerdings dem größten Dinkelproduzenten im Ländle, dem Martinshof in Buch, einen Besuch abstattet, sucht auch dort vergeblich nach Ährenfeldern. Und doch wird das 1.300 Kubikmeter fassende Getreidelager des Hofs jährlich mit einer reichen Dinkelernte gespeist. Wo also kommt er eigentlich her, der spelzige Rohstoff fürs Superfood?
Seltene Sorten
Ausgesät und gehegt wird besagter Dinkel von insgesamt 60 Landwirten und Landwirtinnen im ganzen Land. 160 Hektar Gesamtfläche, verteilt von Möggers bis Bludenz, zerstückelt in 200 Getreidefelder, manche nicht größer als ein Bauplatz, liefern jährlich bis zu 450 Tonnen des wertvollen Wintergetreides für den Martinshof. Weiteres Spezifikum – und vorarlbergweit einzigartig: Weil Dinkel nicht gleich Dinkel ist, kommt im Rahmen der Kooperative nur das von der Agentur für Ernährungssicherheit geprüfte Saatgut der Sorten „Ebners Rotkorn“ und „Ostro“ in die Erde. Diese seltenen, von der EU geschützten Urdinkel-Sorten sind besonders reich an Vitaminen, essenziellen Aminosäuren, Mineral- und Ballaststoffen.
Der Anbau erfolgt frei von chemischen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln und wird nicht über sogenannte „Halmverkürzer“ manipuliert. Letzteres ist ein oft eingesetztes Hormon, um das Wachstum einzubremsen, damit nicht Wind und Wetter vorzeitig den langstieligen Halm knicken. „In unserer Ähre steckt, was das Jahr hergibt. Es gibt eben gute und schlechte Jahre“, so Bertram Martin, der gemeinsam mit seiner Frau Claudia den Martinshof betreibt. Deren Know-how und der stete Austausch sichern den beteiligten Höfen rentable Erträge, die zu fairen Preisen fix abgenommen werden. Gleichzeitig kann sich der Kunde auf hohe Qualitätsstandards verlassen. Ein Drittel der Partnerbetriebe ist bio-zertifiziert, ebenso verpflichten sich die 40 konventionellen Bauernhöfe, den Dinkel umweltschonend und nach Martinshof-Kriterien auszusäen.
Erntesegen
Dinkel ist genügsam, aber ein Stück weit weniger ertragreich als seine Verwandtschaft aus der Weizengattung. Zudem ist er auch ein wenig kapriziös, was den richtigen Ernte-Zeitpunkt angeht. Bevor die Mähdrescher durch die Lande ziehen, inspiziert Bertram Martin rund drei Wochen lang die Getreidefelder. „Erst um den 10. Juni herum schiebt sich am Spitz die Ähre heraus. Von da an gilt: Je weniger Niederschlag, desto besser, denn jeder Tropfen Regen auf die ‚geschobene‘ Ähre vermindert die Kornfülle.“ Zu lange sollte man sowieso nicht warten, denn wenn das Korn keimt, wird es für die Weiterverarbeitung unbrauchbar. In den elf Silozellen des Martinshofs wird die Ernte schlussendlich schonend gesäubert und zur Haltbarmachung mit frischer Vorderwälder Nachtluft heruntergekühlt. Später rückt der Dinkelschäler dem Korn auf den Spelz. Erst danach kann das Getreide weitervermahlen werden, die Spelzhüllen finden als Einstreu und Füllmaterial Verwendung.
Sowohl die hohe Saatgutqualität als auch der Arbeitsaufwand wirken sich auf die Preisgestaltung aus. Die Kundschaft – von der Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung über Bäckereien bis hin zum Supermarktkunden – akzeptiert den etwas höheren Preis des Getreides, bestätigt Claudia Martin. „Weil ihnen wichtig ist, dass sie ein ehrliches Produkt erhalten.“ Darauf setzt auch eine aktuelle Initiative, die gemeinsam mit der „Marke Vorarlberg“ und der Bäckerei Mangold ins Leben gerufen wurde und regionale Wertschöpfung par excellence demonstriert: der „Urdinkelschatz“, eine neue Brotkreation, für die jährlich 15 Tonnen Urdinkelmehl der Martinshof-Kooperative verarbeitet werden sollen.
Wunderkorn
Zur Rückbesinnung auf die alte Tradition des Dinkelanbaus kam es bei den Martins auf Umwegen. Als sie 1995 den Hof übernahmen, setzten sie als eine der ersten in Österreich auf glückliche Hühner in Freilandhaltung. Das Problem: Das Federvieh legt seine Eier nach eigenem Zyklus und schert sich weder um Osterhasen noch um Urlaubszeiten. Vor allem für die Überschuss-Phasen musste eine Lösung gefunden werden. Mit der Idee, Teigwaren aus sortenreinem Urdinkel herzustellen, fand man die Nische, die bis heute ihren Markt und ihre Fans hat. Das Alleinstellungsmerkmal: „Der Urdinkel hat keinen Weizen eingekreuzt. Insbesondere Menschen, die Weizen nicht oder schlecht vertragen, merken den Unterschied“, weiß Claudia Martin aus zahlreichen Rückmeldungen. Zumal ihre Mehle auch ansonsten „frei von“ sind. Sie erklärt: „Backenzyme und Ascorbinsäure darf man Haushaltsmehlen zusetzen, ohne diese Zusatzstoffe zu deklarieren. Wir lassen sie zur Gänze weg. Es sagt einem doch der Hausverstand, dass das dem Darm nicht bekommen kann.“
Dafür lesen sich die vielen positiven Eigenschaften des Urdinkels wie eine Reklame aus dem Kosmetikstudio: lipophile Antioxidantien zum Schutz gegen „freie Radikale“, Kieselsäure für schöne Haut und glänzendes Haar und darüber hinaus noch die Ankurbelung des Glückshormons Serotonin. Hildegard von Bingen erkannte bereits im 12. Jahrhundert: „Die Seele des Menschen macht er froh und voll Heiterkeit.“ Und auch für unsere Böden ist der Spelz ein echter Gewinn: Dinkelanbau kommt ohne Dünger aus und funktioniert nur in Fruchtfolge-Bewirtschaftung. Das sichert den Anbauerfolg und die Felder bleiben gesund und fruchtbar. Gerade angesichts der niederen Selbstversorgerquote Vorarlbergs, die sich aktuell im einstelligen Prozentbereich bewegt, ist das ein wichtiger Beitrag zur regionalen Ernährungssouveränität und Biodiversität.