The Kids Will Be Alright

Themen rund um das psychische Wohlergehen erleben dank des Einsatzes junger Menschen eine Enttabuisierung und mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Die Forderungen, die sie stellen, betreffen umfassende Reformen im Gesundheitswesen.

Text: Anna Goldenberg, Fotos: Christopher Glanzl

Kiana machte das Beste aus ihrem Suizidversuch. Sie hatte keine einfache Kindheit, schon mit elf Jahren verletzte sie sich selbst. Als die Pandemie begann, war sie fünfzehn. Während der Lockdowns schmiss sie die Schule und warf sich stattdessen Beruhigungsmittel ein. Sie überlebte zwei Überdosen. Zweimal habe sie zudem wegen Suizidgedanken um Aufnahme auf der Psychiatrie gebeten, sei dort aber weggeschickt worden. Dann, am 1. März, der versuchte Selbstmord.

Psychische Gesundheit ist das prägende Thema der Generation Z und betrifft auch die Jahrgänge danach. Die Pandemie pfuschte ihnen ins Erwachsenwerden – laut einer Studie der Donau-Universität Krems litten im Herbst 2021 rund 58 Prozent der Jugendlichen an depressiven Symptomen. Und die Klimakrise pfuscht ihnen in die Zukunft – rund drei Viertel der 16- bis 25-Jährigen haben laut einer Erhebung der englischen Bath-Universität deshalb Angst.

Doch die Kids wissen sich zu helfen. Was nach Kianas Suizidversuch geschah, steht für den Umgang ihrer Generation mit psychischen Problemen: Ihre Freundesgruppe tat sich zusammen und startete einen Instagram-Account, „Change for the Youth“ nennt sie sich. Auf ihrem Feed erzählen auch andere Betroffene über ihre Erfahrungen mit persönlichen Krisen. Die Jugendlichen organisieren Kundgebungen in Wien und eine Online-Petition, die mittlerweile über 21.000 Menschen unterschrieben haben. Ihre Forderungen: Psychotherapie auf Krankenkasse, bessere Bezahlung für Pflegekräfte, strengere Medikamentenausgabe und bessere Ersteinschätzung von Patientinnen und Patienten.

Demonstration von „Change for the Youth“ Ende Juni 2023 in Wien.

Jahrhundertelang wurden „Wahnsinnige“ in Irrenhäusern eingesperrt, waren „schwache Nerven“ ein Euphemismus für Erkrankungen der Psyche, unterhielt man sich nur in schambehaftetem Flüsterton über Sucht, Ess- und Angststörungen. Das ändert sich nun. Die Erkenntnis, dass psychische Erkrankungen, ebenso wie ein Beinbruch, jede und jeden betreffen können und deshalb auch so behandelt werden sollen, wurde langsam aber konsequent von der breiten Öffentlichkeit anerkannt. Zu verdanken ist das jungen Leuten wie Kiana – und ihren Smartphones.

Kiana und ihre Freunde können sich an ein Leben ohne allgegenwärtiges Internet nicht erinnern. Auch soziale Medien gab es für sie schon immer. Die Technologie erlaubt, offen und breit zu kommunizieren. Gerade für tabuisierte Themen ist das wichtig. Aber ist es auch immer richtig? Schließlich birgt die starke Präsenz von psychiatrischen Themen auch Gefahren – und zwar abseits von den Stammtischargumenten, die Jugend sei einfach „verweichlicht“, frühere Generationen hätten es schließlich auch ohne Therapie ins Erwachsenenleben geschafft. (Wobei so manches Leben behandelt vermutlich besser verlaufen wäre.)

In einem Paper, das im April diesen Jahres im Fachjournal New Ideas in Psychology erschien, stellen jedoch zwei Forschende eine ernstzunehmende These auf: Die enorme Präsenz von „Mental Health“ auf den sozialen Medien könne zu einer Überinterpretation führen. Oft sind die Beschreibungen nämlich so allgemein gehalten, dass sich jede und jeder bei einer Diagnose wiederfindet: Konzentrationsprobleme? ADHS. Schlafstörungen? Depression. Keine Lust auf Party? Angststörung.

Das könnte vor allem für Jugendliche gefährlich sein, die noch auf der Suche nach ihrer Identität sind. Aus der Forschung ist nämlich bekannt, dass ein „Label“, wie beispielsweise eine psychiatrische Diagnose, wirkt: Bekommt man es von anderen, verhält man sich eher danach. In einer klassischen Studie, die 1989 im Fachjournal Health Psychology erschien, wurde Probandinnen und Probanden gesagt, sie hätten Bluthochdruck, obwohl das gar nicht stimmte. Sie gaben später an, typische Symptome zu spüren.

Es wäre also naheliegend, dass es sich mit psychischer Gesundheit ähnlich verhält. Oder verhalten könnte. Denn das Ganze ist bislang lediglich eine Hypothese, die Forschung dazu fehlt. Aber immerhin ist es mittlerweile Teil der Konversation. Solche Fragen können also diskutiert und erforscht werden, ohne Tabu. Dafür gab es lange keinen Raum.

Das Tabu bricht nun weg, die junge Generation blickt nach innen. Das mag zunächst befremdlich wirken, scheint es doch so weit entfernt von den Erwartungen an die jugendliche Rebellion: Gingen die früheren Generationen gegen Kriege in fernen Erdteilen auf die Straße, fordern die Kids von heute auch eine bessere Versorgung für sich selbst. Sie schreiben über ihre Befindlichkeiten, anstatt mit inbrünstigem Idealismus über den Weltfrieden zu philosophieren. So ist man es schließlich von den Jungen gewohnt. Ist dieser Blick nach innen nicht unpolitisch, ja, egoistisch? Keineswegs.

Denn nicht nur Kiana und ihre Mitstreiter haben längst erkannt, dass sie vor einem strukturellen Problem stehen. Sie wissen, dass Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen von psychischen Auffälligkeiten aufgrund der Pandemie besonders betroffen sind, wie es auch eine deutsche Längsschnittstudie zeigte. Sie wissen, dass sie auf bessere Arbeitsbedingungen für das (Pflege)Personal setzen müssen, wenn sie besser behandelt werden müssen. Sie wissen, dass mit dem Klimawandel eine Krise auf sie zukommt, die die Pandemie – sprichwörtlich – in den Schatten stellt. Die Kids zeigen auf, wo der Staat ihrer Meinung nach Lücken hinterlässt.

Fühlen, tun, denken – in dieser Reihenfolge funktioniert der Mensch. Das wissen wir aus der Neurobiologie. Es sind Gefühle, die Menschen dazu bringen, sich für Veränderung einzusetzen. Die Reihenfolge ist nicht denken, fühlen, tun. Es reicht also nicht, zu wissen, dass etwas anders sein muss – erst die Emotion macht den Aktivismus möglich.

Auf die junge Generation trifft das doppelt zu: Das Bewusstsein für psychische Krisen schult sie darin, ihre Emotionen genau wahrzunehmen. Um sich dann mit mehr Kraft für Veränderung einsetzen. Die Psychiatrieplätze sind nur der Anfang.


Anna Goldenberg, Jahrgang 1989, ist Journalistin und Autorin in Wien. Sie schreibt regelmäßig über Wissenschaft für den Falter und kommentiert für die Presse als Kolumnistin Politik- und Gesellschaftsthemen. Ihr Buch „Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete“ erschien 2018 im Paul Zsolnay Verlag. Anna Goldenberg studierte Psychologie an der Universität Cambridge und Journalismus an der Columbia University in New York.


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