Umweltkolumne
Brausen und bremsen
Umweltministerin Leonore Gewessler hat mehrere Straßenbauprojekte abgeblasen. Ihre Gegner pochen auf Recht und Gerechtigkeit – aber ist es wirklich oberstes Bürgerrecht, mit dem Auto von A nach B zu rauschen?
Als Umweltministerin Leonore Gewessler von den Grünen vor Jahresende zahlreiche Straßenbaupläne für beendet erklärte, konnten viele das kaum fassen. Das traut sie sich? Auch, dass sie der A9-Pyhrnautobahn südlich von Graz keine dritte Spur hinzufügen will, ließ Interessensvertreter und Regionalpolitiker zürnen. Für Baugewerkschafter Josef Muchitsch (SPÖ) ist die Absage eine „Pflanzerei der Pendlerinnen und Pendler“, die sich „jeden Tag von Spielfeld nach Graz quälen“ und dabei im Stau stecken würden. Laut Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung muss die dritte Spur kommen, weil „der Steuerzahler ein Recht auf individuelle Mobilität hat“. Und die FPÖ sieht einen Angriff auf „die steuerzahlenden Leistungsträger“.
Bei ihren Absagen führte die Umweltministerin nachvollziehbare Argumente ins Treffen, wie die Klimaziele als auch das Bemühen, den Bodenverbrauch einzudämmen. Ob abgeblasene Lobauautobahn in Wien oder gecancelte Straßen in Kärnten: Die Argumente der Ausbaubefürworter sind dieselben. Erstens: Es gibt einen Stau, also brauchen wir eine neue Straße/Trasse, dann ist das Problem weg. Zweitens: Es sei ungerecht, wie da die braven Steuerzahler behandelt werden. Ist es wirklich ungerecht?
Die Formel, auf die die meisten Politiker seit Jahrzehnten setzen: „One more lane will fix it.“ Doch das funktioniert selten. Weil die zusätzliche Straße fix neuen Verkehr nach sich zieht. Das wird deutlich, sieht man sich die Entwicklung von Österreichs Straßenstrecken und den gefahrenen Kilometern an: 1983 war das heimische Autobahn- und Schnellstraßennetz 968 Kilometer lang, die Menschen legten im Schnitt pro Tag 22 Kilometer zurück. Im Vorjahr war das Schnellstraßennetz auf 2.258 Kilometer gewachsen. Nach wie vor aber wird gestaut, wohin man schaut – im Schnitt spulen wir nun mittlerweile 36 Kilometer pro Tag herunter. Und zwar vermehrt mit dem Auto: Legten 1983 die Menschen „nur“ 33,5 Prozent ihrer Wege mit dem Auto zurück, tun sie das heute zu 48 Prozent.
Eine Freundin, die an der fraglichen Autobahnstrecke 25 Kilometer südlich von Graz wohnt, findet das mit dem Stau übrigens überzogen. „Geh!“, ruft sie, „zu den Stoßzeiten ist der Verkehr über ein paar Kilometer stockend. Aber überhaupt kein Vergleich zu Wien.“ Viele seien es einfach nur „gewohnt, elegant bis Graz durchzurauschen.“ In Wahrheit verliere man im Morgenverkehr bloß einige Minuten. Käme die dritte Spur, gäbe es für kurze Zeit ein bisschen Durchrauschen, ehe es erst wieder zäh würde. Weil noch mehr mit dem Auto fahren. Oft genug passiert. Und dann?
Auch gibt es sehr wohl Alternativen dafür, sich täglich über die Autobahn „zu quälen“. Sicher gibt es Menschen, die zu Zeiten in den Job müssen, wo einfach keine Öffis fahren. Oder an Arbeitsstellen, die zu weit weg von jeder Haltestelle sind. Aber das trifft wohl kaum auf die Mehrheit all jener zu,
die regelmäßig diese Strecke absolvieren. Schon bisher konnte man mindestens einmal, oft zwei Mal die Stunde per Bahn von Graz ins 37 Kilometer entfernte Leibnitz und retour fahren. Anfang Februar hat das Land den Takt verdichtet. Dass es immer noch mehr werden könnte – geschenkt.
„Es ist einfach“, findet die Freundin. Die Parkplätze vor dem Bahnhof in ihrer Gemeinde wurden ausgebaut, man finde immer einen (Gratis-)Stellplatz. „Von dort bin ich in 25 Minuten am Grazer Bahnhof, das schaffe ich mit dem Auto gar nicht.“ Sie und ihr Mann haben das Zweitauto längst verkauft und fahren nur noch selten per Pkw nach Graz.
Und das „Recht des Steuerzahlers auf individuelle Mobilität“? Naja – was ist im Vergleich mit dem Recht der 80-jährigen, autolosen Landbewohnerin, nicht nur zügig, sondern überhaupt von A nach B zu kommen? Die hat keine so laute Lobby. Außerdem stehen dem Rechtsanspruch à la Wirtschaftskammer andere Rechte diametral entgegen. Gerade im Grazer Süden fressen Gewerbezentren und Straßen in rasantem Tempo beste Ackerflächen weg. Das entzieht den Bäuerinnen und Bauern die Basis ihrer Existenz und dem Land jene für seine Selbstversorgung. Gerechtigkeit ist also auch beim Thema Mobilität eine Frage der Position.
Und auch wenn sie heute noch keine Steuerzahler sind: Die Kinder und Jugendlichen müssen mit den Folgen dessen leben, was wir heute zupflastern. Für sie geht es aber um mehr als darum, immer möglichst freie Fahrt zu haben – für sie geht es um nicht weniger als das Recht auf Zukunft.