Völlig überschätzt? Essay von Lisz Hirn

Illustration Bianca Tschaikner

Vor der Pandemie galt sie als das Selbstverständlichste der Welt. Etwas, das man als Teenager verehrt und als Erwachsener im Schrank der Bürgerrechte wie eine lieb gewonnene Trophäe verwahrt: die eigene Unabhängigkeit. Das höchste Gut des neoliberalen Konsumbürgers wurde nicht nur für die Wahlurne, sondern auch für den eigenen Lebensstil fetischisiert. Unabhängigkeit ist ein Luxus, den es nur dort gibt, wo es wenig Risiko und viel Sicherheit gibt, also auf den westlichen Inseln der Seligen.


Als das Virus nach Österreich kam, folgte ihm der Ruf nach unbedingtem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Da der vergessene Begriff zu utopisch schien, zerbrach man sein Ganzes in Teile. Zuerst wurde Solidarität mit den Alten gefordert, die man wegsperrte; dann mit den Kranken, die sich nicht wehren konnten; dann mit der Tourismusbranche, deren Zusammenbruch den Staatshaushalt bedrohte; dann mit den Kindern, deren Rache man zurecht fürchtet. Zuletzt erbat man sich sogar Solidarität mit den Politikern, deren Imagepolitur und deren Energiereserven im Laufe der Lockdowns gelitten hatten. Im Angesicht der steigenden Inzidenzzahlen trat zutage, was uns die Leistungsgesellschaft lange kollektiv verboten hatte. Nämlich von irgendetwas außer uns selbst abhängig zu sein. Schlagartig gab es großzügig angelegte Härtefallfonds, eine stattliche Auslastung der einst für zu teuer befundenen Intensivbetten und eine unüberschaubare Anzahl an Expertisen von Fachkräften, die ihre Ausbildung und Forschung nur mittels staatlicher Investitionen durchführen konnten.


Was taugt die Unabhängigkeit jedes Einzelnen also im Kampf gegen einen mikrobiologischen Feind, der nichts tut, außer das, was er muss: sich reproduzieren? Das kann das Virus aber nur, wenn es einen Wirt findet. Es ist also abhängig von uns. Unabhängigkeit ist nichts, was für ein Virus Sinn macht. Höchstens auf den Demonstrationen von Coronaleugnern oder Maßnahmenkritikern wurde an sie erinnert: „Wir möchten selbst bestimmen!“ Ob wir die Maßnahmen einhalten, ob wir uns impfen lassen oder ob wir an der Existenz des Virus zweifeln. Das Gegenteil von Zwang ist womöglich nicht Selbstbestimmung, sondern die Pflicht. Schon Kant schrieb nüchtern in Bezug auf die Gesetze des Staates: „Räsoniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“ Was, wenn es die Pflicht gebieten würde, den Maßnahmen zu folgen, obwohl es der ideologische Gegner befiehlt? Ein Virus existiert unabhängig davon, ob wir daran glauben wollen oder nicht. Im Gegensatz zu menschlichen Erfindungen wie dem Kapital, einem Messias oder eben unserer Unabhängigkeit.

Lisz Hirn, geboren 1984, studierte Gesang und Philosophie in Graz, Wien, Paris und Kathmandu. Seit zehn Jahren ist sie Obfrau des Vereins für praxisnahe Philosophie und Lehrende im Universitätslehrgang Philosophische Praxis der Universität Wien. Seit Herbst 2020 ist sie zudem als Universitätslektorin am Institut für Architektur und Entwerfen der TU Wien tätig. Foto Harald Eisenberger


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