Vom Berg, vom Holz und von der Wettertanne
Essay von Kurt Bereuter
Gestern war ich in Zürich und traf einen Mann aus flachen deutschen Landen, um einen Text zu besprechen, der weniger mit mir, denn mit meinem kleinen „Ländle“ zu tun hat. Das „Ländle“ kennt er wohl, aber als Urlauber und Sportsmann und nicht wie ich als den Ort, an dem ich fast mein ganzes Leben zubracht habe und es nun wohl auch hier zu Ende leben werde. Das soll kein Jammern sein, nein, nein, das soll durchaus mit Stolz und Freude gesagt sein. Wenngleich ich nicht verhehlen möchte, dass ich dieses „Ländle“ – andere würden vielleicht Heimat sagen, wenn dieser Begriff nicht so politisch (verfemt) wäre – schon oft kritisierte und es weiter tun werde. Denn Heimat sei eben da, wo man sich (noch) aufrege, wie der „Holzphilosoph“ Markus Faißt einen Ungenannten zitiert.
Kurz und gut, ich will über meine Heimat berichten, ohne sie so zu nennen, was der deutsche Mann in Schweizer Landen nicht wirklich verstehen kann. Zumal es ja gerade eine Krankheit gibt, die nach diesem Lande die „Schweizer Krankheit“ genannt wird und nichts anderes meint als das Heimweh, von dem die Schweizer Kriegssöldner in Ermangelung ihrer heimatlichen Berge befallen worden sein sollen. Es gibt also diese geistig-psychische Beziehung von Mensch und dem Raum, in den er hineingeboren wird. Zumindest gibt es sie bei manchen. Ob ich dazugehöre? Keine Ahnung. Aber meine frühesten Sozialisierungserlebnisse stammen wohl aus diesem Raum und aus dieser (damaligen) Gesellschaft.
Wie viel von meiner Persönlichkeit, meiner Mentalität, meinen Werten, Einstellungen und Haltungen von diesem Raum und diesen Menschen stammen und noch mehr oder weniger (un)verfälscht da sind – auch keine Ahnung. Und meine Identität? Als was fühle ich mich und nehme ich mich selbst wahr? Als Bregenzerwälder? Klar – und habe dabei den Literaten und Sozialreformer Franz Michael Felder vor Augen. Als Österreicher, wenn ich in Europa unterwegs bin, und tatsächlich als Vorarlberger, wenn ich in Österreich nach meiner Herkunft gefragt werde. Und in so einem Moment habe ich dann kurz den Bodensee vor Augen und dann viel, viel länger die Berge, die Wiesen, die Alpen, die Wälder und das Haus aus Holz.
Vom Haus
„Etwas, was kein späteres Haus mehr zu geben hatte, macht dieses Bauernhaus mir lieb und einzigartig: Es war das erste! Es war die erste Zuflucht … die erste legitime Werkstatt meines Berufes, hier zum ersten Mal hatte ich das Gefühl von Sesshaftigkeit, und eben darum auch zuweilen das Gefühl der Gefangenschaft, des Verhaftetseins an Grenzen und Ordnungen; hier zum ersten Mal ließ ich mich auf den hübschen Traum ein, mir an einem Orte eigener Wahl etwas wie Heimat schaffen und erwerben zu können.“ Diese Zeilen stammen von Hermann Hesse aus dem Jahr 1931. Seit ich diese Zeilen kenne, remple ich beizeiten an diesen beiden Wänden an: der Wand des Zuhauses und der Wand der Grenzen. Aber beide Wände sind zugleich immer auch die Wände des Lebens an sich, denn „mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ wird in einem gregorianischen Choral gesungen. Jegliche Freiheit und jegliches soziale Eingebettetsein hat mit Grenzen und Beschränkungen zu tun. Dass aber an diesen gerüttelt werden darf, und zwar ohne, dass jemand gleich herausfällt oder massiv ausgegrenzt wird – ich denke wieder an Franz Michael Felder – , macht die soziale Qualität einer Gesellschaft aus. Unter diesem Aspekt, möchte ich sagen, leben wir in einem Land mit viel Weitblick.
Vom Berg
Weitblick erhalten wir in unserem schönen „Ländle“, wenn wir uns in die Berge bemühen, nicht nur beim In die Ferne-Schauen, sondern auch bei der Innenschau. Wenn Thomas Feurstein von der Vorarlberger Landesbibliothek auf den Vorarlberger Bergsteiger Karl Blodig (1859–1956) verweist, dass dieser den Alpinismus als sittliche Größe betrachtet hätte, tut er das mit gutem Grund. Die Berge seien nach Blodig wohl der beste Ort, um den Charakter zu schulen. Sicherheit des Urteils, Beharrlichkeit des Willens, Härte gegen sich selbst und Milde und Rücksichtnahme für Schwächere seien Eigenschaften, die man nirgends besser erwerben könne als auf Reisen in den Bergen.
Längst beweist sogar die Wissenschaft, dass körperliche Anstrengung gut für das psychische Wohlbefinden, ist und Bewegung in der freien Natur um ein Vieles mehr. Was eignet sich hier besser als das Wandern in die Berge? Man entsteigt nicht nur den Nebeln im Tal, sondern gewinnt auch immer mehr Abstand zu den Niederungen – auch jenen des Alltags. Berggipfel, ein Joch oder nur eine Anhöhe können schon ein lohnendes Ziel sein und das Erreichen dieser gibt ein Gefühl des Geschaffthabens und lässt Distanz zwischen Ausgangspunkt und Erreichtem entstehen, eröffnet neue Perspektiven und schafft eine neue Einordnung der Bedeutsamkeit – mit dem viel beschworenen Blick von oben und von außen.
Vom Holz
Ähnlich verhält es sich mit einem Spaziergang im Wald. Nachweislich verlangsamt
sich bei einem Spaziergang im Wald der Puls und die Gerüche wirken wohltuend auf Physis und Psyche. Der Wald wird traditionsgemäß in unseren Landen mit Holz beschrieben, vor allem, wenn es um die Arbeit im Wald geht: Wir gehen „ins Holz“. Und Holzarbeit ist anstrengend und schafft nebenher – eigentlich als Hauptzweck – einen Nutzen. Als Nutzholz für die Säge oder als Brennholz für die warme Stube. Gefährlich ist sie auch, die Arbeit im Holz, davon zeugen nicht wenige Gedenktäfelchen, die einem beim Wandern auf alten Holzwegen immer wieder begegnen und an junge Menschen erinnern, die im Holz ihr Leben verloren. Empfohlen sei hier der Netschelweg von Übersaxen zum Bädle in Laterns, wo einem auf Schritt und Tritt Geschichte begegnet. Inklusive der Parzelle Wies, die vor fast 100 Jahren entsiedelt wurde und heute nur mehr eine Alpe ist. Aber es gab dort sogar eine Schule und noch zeugt ein altes Schild von dieser einst ganzjährig besiedelten Laternser Parzelle, wo Menschen mit Schmerz ihre Heimat aufgeben mussten, um mit Kind und Kegel in leichter erreichbare Parzellen zu ziehen. Unweit einer kleinen Kapelle findet sich ein weiteres Alpgebäude, das dem Verfall preisgegeben ist und dem man das auch ansieht. Wer an solchem Ort keine Wehmut empfindet, ist wohl auch nicht von der Sorte, die der „Schweizer Krankheit“ anheimfallen. Was es aber dort gibt, sind intakte Wettertannen, die nicht immer eine Tanne sein müssen, aber dem Vieh immer Schutz vor dem Wetter bieten.
Von der Wettertanne
Eine Wettertanne ist ein alleinstehender Baum, der dem Schutz von Mensch und Vieh vor dem Wetter dient, häufig eben Tannen, die von Wind und Wetter zerzaust sein können und wegen dieses Erscheinungsbildes beliebter Gegenstand in Malerei und Dichtung waren. Das erste Mal erinnere ich mich an eine Wettertanne, als wir als Kinder beim Heuen Unterstand suchten, weil ein Wetter (Sturm und Regen) aufzog. Mitsamt dem Heugeschirr eilten wir der Bäuerin unter die Wettertanne nach, um das Wetter abzuwarten und dann weiterzumachen, wo wir aufgehört hatten. Unter ihrer Schürze zog sie drei kleine Äpfel hervor und nützte die Pause unter der regendichten Wettertanne.
Die zweite Erinnerung an eine Wettertanne habe ich von der Alpe, als wir bei heftigem Regen zum Vieh schauten und die Rinder allesamt unter der Wettertanne gefunden haben, wo sie nah beieinanderstanden und sich sicher fühlten. Auch bei allzu großer Hitze und prallem Sonnenschein ist es ein herrlicher Unterstand mit natürlicher Kühle. Das gilt auch für den Wanderer, der sich dort niederlassen kann, wenn das Vieh die Alpen schon verlassen hat und er sich noch in seinen hoffentlich geschätzten und geliebten Bergen seinem physischen und psychischen Wohlergehen widmen darf. Vor jeder Wettertanne empfinde ich eine tiefe Demut und Dankbarkeit, dass es sie gibt, und sie löst in mir schöne, erhabene Gedanken an eine sichere Kindheit aus. Sie ist nie aufdringlich, sie ist oft nicht sehr groß, sie ist oft nicht sehr schön, sie ist nie von sehr edlem Holz, sie hat viel zu viel Äste für die Säge und beim Hacken ist sie wegen dieser gesunden Äste widerborstig und mühsam. Aber das ist auch nicht ihre Aufgabe: Brennholz werden. Sie ist für anderes bestimmt, nämlich das Schutzbieten und das macht sie auf unaufgeregte und verlässliche Art. Schön, wenn sie da ist, wo sie gebraucht wird, und dort noch lange bleiben darf.
Vielleicht ist die Wettertanne ein prächtiges Synonym für mein „Ländle“. Es ist da, wenn es gebraucht wird, es gibt Schutz, wenn wir ihn alle manchmal brauchen, und eigentlich ist es doch die schönste Tanne weit und breit. Immer möchte ich ja nicht unter der Wettertanne verweilen müssen, aber wenn es sie braucht, ist es schön, dass es sie gibt – die Wettertanne und die Heimat, äh, mein „Ländle“. Vielleicht hat die „Schweizer Krankheit“ mit den Bergen und den Wettertannen zu tun und ist letztlich gar keine Krankheit, sondern nur ein Ausdruck für etwas, das man liebt und zurzeit gerade nicht um sich hat, einfach ein Weh nach Heimat.