Vom Bewahren und Verschonen
Weniger ist alles.
Essay von Peter Natter
Der Mensch als Maß aller Dinge, wie es vom zeitlich und denkerisch vorchristlichen Philosophen Platon aus Protagoras’ Lehre überliefert ist, meint die Berufung auf den subjektiven Standpunkt: Wie die Dinge sich für mich präsentieren, so sind sie eben für mich; und so wie für dich, für dich usw. Also eine Vorform phänomenologischer oder, wenn es aus dem Ruder läuft, egomaner Betrachtungsweise. Der so zum Ausdruck und zum Tragen kommende Subjektivismus generiert wieder, wenn es gut geht, in erster Linie Verantwortung: Von der es nicht weit ist bis zur Nachhaltigkeit, welcher diese Zeilen vorrangig gewidmet sind.
Manches Einschlägige spricht dafür, dass ich ein echter Vorarlberger bin, im Wesentlichen die Ahnentafel. Ob ich ein typischer Vorarlberger bin, weiß ich nicht, weil ich nicht weiß, was das sein soll oder wäre, ein typischer Vorarlberger. Ein durchschnittlicher? Wie aber soll so ein durchschnittlicher beschaffen sein? Wie soll er in der Welt stehen – im Unterschied zum durchschnittlichen Tiroler oder Appenzeller oder Londoner? Was ist zu tun als typischer oder echter Vorarlberger?
Wir sollten „tagsüber nicht so tun, als würden wir nachts nicht tun, was wir nachts tun“, hat der deutsche Schriftsteller Martin Walser (1927–2023) formuliert. Dass „ein jeder sein Lüstchen für den Tag und eines für die Nacht“ parat hat, wusste wiederum Friedrich Nietzsches Zarathustra von den „letzten Menschen“. Die „letzten Menschen“ sind die, denen die Nachhaltigkeit ihres Seins und Tuns kein Anliegen ist, ebenso wie ihnen ihr Herkommen egal ist. Der Tag geht aus der Nacht hervor, die Nacht folgt dem Tag; der Tag ist nachthaltig, die Nacht von Tagesresten durchgeistert. Nachhaltigkeit ist, nicht nur psychoanalytisch gesehen, die Rückkehr zum Ursprung, die Einheit in und mit sich.
„Zeitgemäßes“ hänge an den Wänden eines Hotels, hat mir einer geschrieben. Streng genommen – wozu ich faustisch gemildert neige: „Das strenge Herz es fühlt sich mild und weich“ (Goethe, Faust) –, streng genommen hat er von Zeitgenössischem gesprochen, von Aktuellem also, von frischem, neuem, jungem Zeug (Kunstwerke im Konkreten), kulinarisch gesprochen von Nicht-Abgehangenem. Das Zeitgemäße soll nicht verwechselt werden mit Zeitgenössischem. Was unserer Zeit und Welt gemäß ist, bleibt eine besondere Frage. Sie fängt spätestens dort an, wo die Zeit, unsere Epoche auf dem Prüfstand steht. Auf wessen Prüfstand? Es kann wohl nur ein überzeitlicher sein, der den stets zurückweichenden Horizont ins Visier nimmt. Aus dieser Perspektive darf dem (nur) Zeitgemäßen misstraut werden. Nicht nur, wo es um die Kunst geht, selbst wenn das Leben als Kunstwerk auf dem Spiel steht, wie es manche in der Person Goethes aufgespürt haben (siehe Rüdiger Safranski: Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie, Hanser Verlag 2013). Weil es im Leben um mehr geht als um Oberflächen oder um Outfits; nämlich um das, was unter die Haut geht, anstatt sie bloß zu verzieren (im besten und selteneren Fall):
„Und genau das tut die Musik der Vergangenheit für uns, sie erweckt die Fremdartigkeit und das Menschsein früherer Zeiten zum Leben, mit einer tief unter die Haut gehenden Wirkung, weit entfernt von dem, was einige Kommentatoren grob als die Museumskultur klassischer Musik abtun.“ (Ian Bostridge: Das Lied & das Ich, Verlag C. H. Beck 2023)Wodurch das Vergangene das Zeitgemäße wird. Wie sagt Martin Buber? „Wer das Verhältnis umkehrt, hebt die Wirklichkeit auf“: Der Raum ist im Opfer, die Zeit ist im Gebet. (Martin Buber: Ich und Du, 1923). „Denn Du ist mehr, als Es weiß.“ Und erst recht als ich/Ich weiß. Das ist nicht so weit hergeholt, wie man meinen möchte. Die große Frage ist die nach dem Maß (siehe oben).
So viel zum Philosophischen: zum Grundlegenden. Die Umsetzung ist dann das, was wir als Nachhaltigkeit praktizieren, oder eben nicht. „Passion und Aktion in einem“ (Martin Buber), so wie jede echte Beziehung Erwähltwerden und Erwählen ist. Ich schreibe das so scheinbar abgehoben, weil es anders nicht zu haben ist, auch simple Nachhaltigkeit nicht. Nachhaltigkeit? Ein Tun, ein Handeln, ein Sein, ein Leben, das über sich hinaus wirkt. Wohin? Ins Unsichtbare und Ungewusste. Das ist für uns Heutige – Bildermenschen, Vergoogelte, Verkabelte, Internetlinge – schon viel, viel an Herausforderung, Überwältigung, zu Bewältigendem.
Es geht ums Tun und um Haltungen. Andacht ist eine Möglichkeit, das „empfangende Schauen“ (Martin Buber) eine andere; „Gschaftlhuberei“ (Hannah Arendt) ist keine oder eben eine destruktive, mephistophelische. Und wo bleibt die Nachhaltigkeit? Wo sie bleibt? Fragen wir lieber, wo sie herkommt und, vielleicht noch, wo sie hinwill. Woher nehmen, wenn nicht schon wieder stehlen? Wenn man bedenkt – was nottäte! –, dass die Kolonisatoren von Südamerika bis Afrika und Asien und tief hinein in die Talschaften der Alpen nichts anderes als Räuber waren und dass das kolonialistische Denken, der Krieg aller gegen alle, bis heute das herrschende Muster in den Köpfen und Institutionen geblieben ist, dann lässt sich bei einigem guten Willen und Überblick abschätzen und absehen, wo die Arbeit wartet. Vor allem, dass sie wartet, also schon da, schon sehr lange da ist, nur eben noch ungetan. Zu verwirklichen ist eine Welt, die „wir immer schon selbst in uns tragen“ (Andreas Weber: Indigenialität, Matthes & Seitz Berlin 2024). Und, so abgetan es klingen mag, das Prinzip der Fruchtbarkeit dieser Welt lautet nicht Fortschritt und nicht Wachstum; dann schon eher Nachhaltigkeit, und diese beginnt bei der Beziehung zu uns selbst. Sie mag gerne auch dort enden. Das gilt ob der milliardenfachen Vernetzungen, das heißt der emotionalen, sozialen und ökologischen Verstrickungen Vorarlbergs mit den weitesten Weiten Afrikas, den höchsten Höhen Asiens und den tiefsten Tiefen der Weltmeere nur umso mehr. Keine schönen Aussichten? Sie werden aufgehoben, Leserin, in deiner Einsicht ins Deinige als Element des Alls. Weniger ist es nicht.
Peter Natter. Geboren 1958 in Alberschwende, aufgewachsen in Bregenz, Romanistik- und Philosophiestudium in Wien. Autor, vieljährige Lehr- und Erwachsenenbildungstätigkeit.
Seit 2023 Pensionist.