Vom Kairos


Essay von Ulrich Grober, Illustration Jörg Schorn

Wir sprachen über den bevorstehenden Geburtstag unserer Tochter. Was sollen wir schenken? Was ihr wünschen? Sie steht mitten im Leben. Mit ihrer jungen Familie und ihrem Freundeskreis, im Beruf. Ein kleines Gedankenexperiment: Wann erreicht sie eigentlich ihr hohes Alter? Eine simple Rechenaufgabe. Ihren 80. Geburtstag wird sie 2065 feiern. Ihre Tochter, unser Enkelkind, wird Ende 2099 so weit sein, an der Schwelle zum 22. Jahrhundert. Plötzlich nimmt das Wort Zukunft Gestalt an. Es wird lebendig. Die beiden verkörpern unsere Verbindung zur – wie man früher sagte – Nachwelt. Uns öffnen sie einen weiten und so schwer überschaubaren Zeithorizont. Doch mit ihnen beginnt erst die lange Kette der nachfolgenden Generationen. Das ist der Zeithorizont von Nachhaltigkeit.In den letzten Jahrzehnten – in meiner Generation – dominierte die Rede über Freiheiten und Rechte. Das hatte seine Berechtigung und seinen Wert. Aber diese Rede wurde im Laufe der Zeit radikal eingeengt: auf die Rechte des Stärkeren und die Freiheit, viel Geld zu verdienen – egal wie – und immer mehr Waren zu konsumieren.

Nachhaltigkeit dagegen ist primär ein Diskurs über Verantwortung und Pflichten. Mit dem Ziel, den nachfolgenden Generationen die Möglichkeitsräume für ihre eigenen Vorstellungen von einem guten Leben offenzuhalten. Verantwortung ist ein großes Wort. Es kommt aus der mittelalterlichen Rechtspflege. Du wirst eines bestimmten Vergehens angeklagt. Du antwortest, indem du dein Tun rechtfertigst oder aber ein Vergehen zugibst und die Konsequenzen auf dich nimmst. Du ver-antwortest dich. Im Kontext von Nachhaltigkeit heißt das: Wir antworten auf eine stumme, eine imaginierte und antizipierte Anklage aus den Mündern nachfolgender Generationen. Was macht ihr da eigentlich? Diese Frage zwingt uns im Hier und Jetzt, das eigene Verhalten zu reflektieren und zu verändern. Doch niemand ist berufen, die Welt zu retten. „Durch Auferlegung einer allzugroßen – oder vielmehr – aller Verantwortung erdrückst du dich“ (Franz Kafka). Wie wäre es, wenn man auch die Verantwortung auf ein„menschähnliches Maß“ reduzieren würde? Was jeder tun kann: „die Optionen offen halten“ (UN, 1987). Und: „Global denken, lokal handeln“ (UN, 1972). Im Bewusstsein der globalen Herausforderungen im eigenen Umfeld, in den Nahräumen heute etwas Nachhaltiges kreieren, unterstützen, zum Durchbruch verhelfen, weitergeben. Damit das gute Leben auf lange Sicht möglich bleibt. Vielleicht ganz anders! Aber auch 2065, auch 2099! Momentan verfinstert sich unser Zeithorizont. Die multiple Krise schlägt uns in den Bann. Die Flut von Schreckensbildern, der wir Tag für Tag ausgeliefert sind, schürt Zukunftsängste, Abstiegsängste, Verlustängste, Gefühle von Ohnmacht und Ausweglosigkeit. All das lähmt unsere Handlungsfähigkeit und damit unsere Zukunftsfähigkeit.

Was tun? Die Augen davor verschließen wäre sinnlos. Ich plädiere im Gegenteil dafür, sie weiter zu öffnen. Beim Blick auf das große Ganze wird sichtbar: Die Probleme – auch Erderwärmung, Pandemien, Kriege sowieso – sind menschengemacht. Und deswegen auch durch menschliche Intelligenz und Kreativität, Weisheit und Genialität lösbar. Wenn, ja wenn der kollektive Wille stark genug ist.Die Zukunft ist ein unbetretener Pfad. Sie ist prinzipiell offen. Ständig ändern sich die Koordinaten. Zukunft (Zukünfte!) ist niemals die lineare Verlängerung der Gegenwart. Wie es ausgeht, weiß niemand. Hilfreich ist ein Blick auf die Zeitvorstellungen der alten Griechen. Sie kannten durchaus die chronologisch ablaufende Zeit, den Zeitpfeil. Viel stärker lebten sie in den Kreisläufen und Rhythmen, in der zyklischen Zeit von Natur und Kosmos, der Wiederkehr des Immergleichen, des Ähnlichen.

Und dann hatten sie noch eine Zeit, die sie Kairos nannten. Das ist der „geeignete Moment“, die günstige Gelegenheit, die unerwartete Konstellation, das Zeitfenster, wenn plötzlich eine Wende zum Besseren gelingen kann. Den Kairos können wir nicht planen. Er ist unverfügbar. Was wir jedoch machen können und müssen: für ihn offen sein und die sich ergebenden Chancen aktiv ergreifen. Bereit sein, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Ich denke, die Vorstellung von Kairos ist eine Quelle von Zuversicht.Diesen uralten Zeitbegriff nutzen wir ganz selbstverständlich in unserem modernen Alltag. Nämlich, wenn wir vom richtigen Timing sprechen. Das meint ein aktives Eingreifen genau dann, wenn die Umstände so sind, dass es gelingen kann. Es erfordert ein geduldiges Abwarten-Können, bis es so weit ist, aber auch ein Vorbereitet-Sein und schnelles Handeln, wenn es so weit ist.WOW! Eine Silbe, zwei Laute. Dieses Wort ist purer Minimalismus. Ist es banal? Ich glaube nicht. Denn damit signalisieren wir den Einbruch von etwas Außergewöhnlichem in unseren Alltag, den magischen Moment. Blitzartig katapultiert er dich aus der Routine. WOW-Momente kommen unerwartet, sind unverfügbar. Wie Kairos-Momente. Die Möglichkeit, sich von der Welt verzaubern zu lassen, ist keine Sache der Vergangenheit. WOW-Momente ereignen sich im Hier und Jetzt. Sie passieren in der Begegnung mit der lebendigen Natur. In der lebendigen Kommunikation innerhalb der zwischenmenschlichen Sphäre. Im Umgang mit Artefakten. Seien es schöne und berührende Dinge des täglichen Gebrauchs. Seien es Werke der Kunst. Die junge Generation ist wie vielleicht keine zuvor darauf angewiesen, diese Momente zum Leitmotiv – zum Refrain – ihres Lebens zu machen. Denn die WOW-Momente sind es, die uns die Kraft verleihen, der Flut von O-WEH-Momenten standzuhalten und diese produktiv zu verarbeiten.Im Sommer sahen wir in einem Zeltkino an unserem Urlaubsort den Kafka-Film „Die Herrlichkeit des Lebens“. Er endet mit dem qualvollen Tod des Schriftstellers 1924, vor hundert Jahren, in einem Sanatorium bei Wien. Eine Stimme aus dem Off zitiert am Schluss einen Eintrag in Kafkas Tagebuch: „Ewige Kinderzeit. Wieder ein Ruf des Lebens. Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereitliegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindlich, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft“ (18. Oktober 1921). Eine Flaschenpost aus der Vergangenheit an uns alle: Lasst euch das Leben nicht verhunzen!

Ulrich Grober arbeitet als Publizist und Buchautor auf dem Themenfeld Ökologie & Nachhaltigkeit. Sein besonderes Anliegen ist die Verknüpfung von kulturellem Erbe und Zukunftsvisionen. Er schrieb für DIE ZEIT, taz, greenpeace magazin, Deutschlandradio, WDR und viele andere Medien. Sein aktuelles Buch „Die Sprache der Zuversicht. Inspirationen und Impulse für eine bessere Welt“ erschien 2022 im oekom Verlag.


Ulrich Grober
Die Sprache der Zuversicht
Inspirationen und Impulse für eine bessere Welt
256 S., oekom Verlag, 2022
ISBN 978-3-96238-368-8
Auch als E-Book erhältlich


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