Von Afrikas Steppe in nordische Wälder

Der britische Journalist und Menschenrechtsexperte Ben Rawlence hat beeindruckende Reiseberichte über Krisenregionen in Afrika vorgelegt. Krieg und Flucht hängen maßgeblich mit der Klimakrise zusammen. Sein prämiertes Buch „The Treeline“ erforscht, wie Wälder die Erderwärmung anheizen.
Von Nicole Scheyerer

Die Bäume wandern. Sei es die schottische Pinie, die sibirische Lärche oder die norwegische Fichte, sie alle ziehen weiter nordwärts. Die Nadelbäume schlagen ihre Wurzeln in die arktische Kältesteppe, wo seit ewigen Zeiten nur Sträucher und Büsche gediehen sind. Die nördlichen Wälder breiten sich seit 50 Jahren immer weiter aus. Der weiße Kreis des Nordpols schrumpft, denn die Taiga expandiert. Fatalerweise erwärmen die eingewanderten Bäume die Böden und heizen die Klimakrise dadurch noch weiter an.

Für sein 2022 erschienenes Buch „The Treeline. The Last Forest and the Future of Life on Earth“ hat sich der englische Journalist und Autor Ben Rawlence mit der nördlichen Baumgrenze beschäftigt. Die Recherchen führten ihn Tausende Kilometer von Schottland nach Norwegen, Sibirien, Alaska und Kanada bis nach Grönland. Sein Bericht wurde bereits in mehrere Sprachen übersetzt und erhielt etliche Auszeichnungen. „Zuerst studiere ich die vorhandene Forschungsliteratur, dann treffe ich Wissenschafterinnen und Wissenschafter und schließlich spreche ich an den betroffenen Orten mit so vielen Leuten wie möglich“, erklärt der Umwelt- und Menschenrechtsaktivist seine Methode im Gespräch.

Zum Zeitpunkt des Online-Interviews befindet sich Rawlence auf Kuba, wo er für sein neues Buch über den Golfstrom forscht. Am 17. Oktober nimmt der Autor, der auch für den „Guardian“ und „The New York Times“ schreibt, an den „ERDgesprächen“ in Wien teil. Der 1974 geborene Engländer hat Orientalistik, Afrikanistik und Internationale Beziehungen studiert. Anschließend war er bis 2013 für „Human Rights Watch“ tätig und hat die Menschenrechtssituation in mehreren afrikanischen Staaten beobachtet. Sein Debüt widmete Rawlence der Situation im Kongo, der seit den 1990er Jahren von Kriegen erschüttert wird. In „Radio Congo: Signals of Hope from Africa’s Deadliest War“ schildert er seine riskante Reise per Bus, Motorrad und Boot zu Menschen, die inmitten von Gefahren und Zerstörung überleben.

2016 erschien die deutsche Übersetzung von Rawlences zweitem Buch „Stadt der Verlorenen: Leben im größten Flüchtlingslager der Welt“. Seit mehr als 25 Jahren harren im kenianischen UNHCR-Lager Dadaab rund 500.000 Menschen aus, die vor Bürgerkrieg, Gewalt, Hunger und Islamismus in Somalia geflüchtet sind. Der Brite hat die riesige Zeltstadt über mehrere Jahre hinweg immer wieder besucht und dabei neun Bewohnerinnen und Bewohner begleitet. Das Buch schildert die Schicksale und Überlebensstrategien dieser Frauen und Männer. Die Lagerinsassen haben so gut wie keine Chance, von diesem elenden Ort wegzukommen, müssen sich aber vor Abschiebung fürchten. Dennoch verlieren sie die Hoffnung nicht. Rawlence geht auch auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Dadaab ein und beschreibt, wie sich das Leben der „Verlorenen“durch das Recht auf Arbeit verbessern könnte.

Aber wie kam der Brite vom staubigen Boden Ostafrikas in die arktischen Wälder? „Die Klimakrise ist ein viel stärkerer Motor für Migration, als es den Anschein hat“, erklärt der Menschenrechtsaktivist, warum er sich seit geraumer Zeit Umweltfragen widmet. So verursachen klimabedingte Dürren jene Missernten, die zu Hungersnöten und in der Folge zu Kämpfen um Ressourcen führen. „Ein großer Anteil der Flüchtlinge in Europa sind Klimaflüchtlinge, aber sie gelten nicht als solche. Die Menschen fliehen etwa aus Somalia und der Sahara-Region, weil sie dort ihren Lebensunterhalt nicht sichern können, etwa weil die Wirtschaft unter Wassermangel leidet.“
Die Stärke von Rawlences Schilderungen liegt in der Kombination von packender Reportage mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, die er literarisch auf elegante Weise verarbeitet. Obwohl er verheerende Zustände und düstere Aussichten schildert, gelingt es dem britischen Autor, eine positive Haltung zu vermitteln. Seine „Helden“, sei es ein kongolesischer Blechhändler oder ein Rentierzüchter aus dem indigenen Volk der Sami, sind resiliente Spezialisten für ihren Lebensraum und nehmen jede Veränderung wahr. „Wenn Leute mich fragen, wo denn die Hoffnung sei, dann frage ich zurück: Auf was hoffen Sie?“, sagt Rawlence. Seine eigene Form von Optimismus wurzle in einem „radikalen Utopismus“. Es gäbe immer Möglichkeiten; nur der Wunsch, dass alles so bleibe wie bisher, wäre ein Irrweg.

Mittlerweile hat Rawlence in Wales das „Black Mountains College“ gegründet, eine alternativ-experimentelle Ausbildungsinstitution, wo auch ökologische Land- und Forstwirtschaft gelehrt wird. Die Studierenden qualifizieren sich dort zu „Changemakers“, die auf die Herausforderungen des Klimazusammenbruchs mit innovativen Ideen reagieren können. Der Campus befindet sich auf einer ehemaligen Farm; es gehe um „Hand, Hirn und Herz“, erklärt Rawlence als Leiter der Mini-Universität, die bereits rund 100 Absolventinnen und Absolventen hat. Bevor er im Herbst nach Wales zurückkehrt, untersucht Rawlence aber noch in mehreren Ländern, was die Abschwächung des Golfstroms dort bewirkt. Expertinnen und Experten warnen bereits vor einem Versiegen dieser Wärmepumpe: Sollte die atlantische Meeresströmung kippen, könnten die Temperaturen in Nordeuropa um bis zu 30 Grad fallen.


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